Die Himmelsbraut
Burganlage schimmerten, vor ihm der Weinberg. Die Mauer hier oben war in denkbar schlechtem Zustand. Überall waren Steine herausgebrochen, die auf dem Boden zerstreut lagen, und es brauchte nicht lang, bis er die Stelle wiederfand, durch die er vorhin in das Rebgelände eingestiegen war.
Nachdem er sich auf die Mauerkrone gestemmt hatte, musste er feststellen, dass die Stimmen von viel weiter links her kamen. Also ließ er sich zurückfallen und zwängte sich weiter durch das Gebüsch, bis er den Eindruck hatte, den Frauen deutlich näher gekommen zu sein. Zwei junge, eher schüchterne Stimmen waren es und die einer Frau, die übertrieben sanftmütig klang. Antonias Stimme war nicht zu vernehmen. Doch was hieß das schon?
Hier war die Mauer zwar wieder höher, doch dafür konnte er das Geäst eines Baumes nutzen, um hinaufzusteigen. Vorsichtig setzte er einen Fuß nach dem anderen, um sich nicht durch ein Knacken zu verraten. Dem Himmel sei Dank wehte jetzt vom Rheinstrom her eine lauer Abendwind und ließ die Blätter über ihm hörbar rascheln. Dann hatte er es geschafft. Mit einem Fuß stand er fest in einer Vertiefung des Mauerwerks, mit dem anderen auf einer Astgabel. Er holte tief Luft, um sich selbst zu beruhigen, dann schob er die Nasenspitze über den Rand.
Vier weiß gekleidete Frauen saßen auf einer kleinen, grasbewachsenen Plattform in der späten Sonne auf dem Boden. Sie waren gut zehn Schritte von ihm entfernt, weit genug, dass sie ihn zwischen den laubbehangenen Zweigen nicht sehen konnten, indessen nah genug, dass er ihre Gesichter erkannte. Die drei jüngeren mit weißem Schleier umringten eine rundliche kleine Person mit schwarzem Schleier, offenkundig die Priorin. Von ihr sah Phillip das Profil, mit kleiner, stumpfer Nase und geröteten Pausbäckchen. Zwei der Novizinnen lauschten ihr andächtig, die eine noch recht jung, die andere älter. Eines erfasste er sofort: Antonia war keine der beiden.
«Es gibt nicht das eine ohne das andre», hörte er die Nonne schwadronieren. «Das Leben nicht ohne den Tod. Das Gute nicht ohne das Böse. Die barmherzige Tat nicht ohne die Sünde. Und Gott nicht ohne den Teufel.»
So ging es weiter, und Phillips Hände krampften sich um die Bruchsteine. Die dritte Novizin hielt ihm beharrlich den Rücken zugekehrt.
Bitte, dreh dich um zu mir, flehte es in ihm. Einmal nur! Da schickte der Abendwind eine warme Böe. Das Mädchen straffte die Schultern und streckte mit geschlossenen Augen, gleichsam genießerisch, Kinn und Nase in die laue Luft.
Phillip unterdrückte mit Mühe ein Jubeln. Es war Antonia! Unverkennbar. Jetzt würde sie gleich lächeln, und ihre Nase würde sich dabei kräuseln. Und genau so kam es. Er vermeinte sogar, die Sommersprossen zu erkennen. Er hätte sein Ross verwettet, dass ihr in diesem Augenblick die Worte der Priorin vollkommen gleichgültig waren und sie sich stattdessen mit Leib und Seele an diesem wunderbaren Spätsommernachmittag erfreute.
Fast glaubte er, dass man seinen Herzschlag bis zu den Frauen hören müsse. Inzwischen hatte Antonia ihr Gesicht gänzlich dem Wind zugewandt, was die Priorin in ihrer frömmlerischen Litanei nicht einmal zu bemerken schien. Phillip lief ein Schauer über den Rücken. Auch wenn Antonias Gesicht fremd wirkte, so ohne eine einzige Locke in der Stirn und in seiner für den Sommer ungewöhnlichen Blässe, so war es doch unverkennbar sein Mädchen, das dort saß!
Nein, er wollte mit dem Wiedersehen nicht warten, bis man sie in einem dieser vergitterten Besuchszimmer gegenüberstellen würde. Sie sollte jetzt schon wissen, dass er hier war. Er balancierte noch einmal seinen Stand aus, entfernte sich mit dem Oberkörper ein wenig von der Mauerkrone, dann hob er die Hände wie einen Trichter vor den Mund und stieß ein heiseres «hijäh – hijäh» aus. Dieser Ruf des Steinadlers war in Kinderzeiten sein Erkennungszeichen gewesen war, und jeder, der sich wie Antonia mit der Vogelwelt auskannte, wusste, dass dieser Ruf gemeinhin aus höchster Höhe ertönte und nicht aus dem Buschwerk hinter einer Mauer.
Tatsächlich öffnete Antonia sofort nach seinem Schrei die Augen und ließ den Blick suchend durch den Weinberg schweifen. Ihre Miene war mehr als erstaunt. Noch einmal stieß er seinen Ruf aus, und diesmal zeigte er sein Gesicht gefährlich offen dicht über der Mauer. Im nächsten Augenblick stockte ihm der Atem: Antonia sah ihm unmittelbar in die Augen, eine flammende Röte überzog ihre
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