Die Himmelsbraut
heraus.
«Noch ein Wort, und du landest im Stadtturm von Breisach.»
Phillip wich zurück. Dann wandte er sich gegen die Pförtnerluke, hinter der er noch immer das Vollmondgesicht der Priorin schimmern sah.
«Ihr werdet noch von mir hören, ihr Nonnen von Marienau», brüllte er. «Ich werde in Breisach vor Gericht ziehen. Die Zeit der Klöster ist aus und vorbei.»
Es brauchte Tage, bis Antonia begriffen hatte, was ihre Freundin ihr anvertraut hatte. Der eigene Vater hatte sie geschändet! Derlei hatte sie noch nie gehört.
Was Camilla von Grüningen mit Vrena besprochen oder getan hatte, erfuhr sie indessen nie. Nur so viel wusste sie nun, dass ihre Freundin offenbar glaubte, ihr wohne ein Dämon inne, der die Mannsbilder in ihrer Nähe zu sündhafter Wollust verführe. Mit allen Worten, die sie finden konnte, versuchte Antonia ihr das auszureden, versuchte sie zu überzeugen, dass das Böse in jenen Männern und nicht in ihr liege. Vergebens.
Als die Tage kürzer wurden und die Nächte kalt, erkrankte Vrena. Es begann damit, dass sie Speis und Trank erbrach, dann ergriff ein seltsames Fieber von ihrem Körper Besitz: Mal saß sie zitternd vor Kälte im Unterricht, und ihre Stirn fühlte sich an wie Eis, mal stand ihr der Schweiß im Gesicht, und ihre Wangen glühten.
«Ist dir nicht gut?», fragte die Novizenmeisterin sie ein ums andre Mal, doch Vrena wehrte ab. Drei, vier Tage lang hielt sie eisern die Stundengebete ein, gab nicht einmal ihre zusätzlichen Exerzitien auf und lehnte es ab, sich mit den andern in der Wärmestube aufzuhalten. Bis sie eines Tages im Chorgestühl zusammenbrach und ohnmächtig in den Krankensaal geschafft wurde.
Ohne die Erlaubnis der Magistra abzuwarten, suchte Antonia nach dem Mittagsmahl die Siechenmeisterin auf. Sie fand sie in der Arzneikammer vor dem Krankensaal.
«Wie geht es Schwester Vrena? Kann ich zu ihr?»
Die Schwester schüttelte den Kopf und gebot ihr mit Handzeichen, zu schweigen und mit ihr zu beten. Antonia gehorchte, voller Angst um ihre Freundin. Nachdem sie sich vom Gebet erhoben und das Kreuz geschlagen hatte, bedeutete ihr die Siechenmeisterin immerhin, am nächsten Tag wiederzukommen.
Da lag Vrena reglos, aber mit offenen Augen auf ihrem Bett. Ihr sonst so kräftiges hellrotes Haar war von stumpfer Farbe, die Wangen unter den beschatteten Augen eingefallen, die Haut glich Pergament. Obwohl sie bis zur Brust zugedeckt war, erkannte Antonia, wie abgemagert ihr einst so weiblich gerundeter Körper war. Wie der einer sterbenskranken Greisin.
«Geht es dir besser?», fragte sie, nachdem die Siechenmeisterin den Saal verlassen hatte.
«Ein wenig.»
«Wann wirst du wieder aufstehen können?»
«Bald schon.»
Mehr sprach Vrena nicht. Stattdessen schloss sie die Augen, und Antonia glaubte sie schon eingeschlafen. Doch nachdem sie sich leise vom Bettrand entfernt hatte und zur Tür gehen wollte, hob Vrena die Hand. Antonia kehrte zurück und nahm die bleiche, kühle Hand zwischen ihre. Wie ein schutzsuchendes Vögelchen lag sie da, zart und kraftlos zugleich. Da konnte Antonia nicht länger an sich halten. Sie warf sich über die Freundin, schmiegte ihre Wange an Vrenas und begann zu weinen.
Bis Martini blieb Vrena im Siechenhaus. Als sie an diesem Vormittag wieder in der Schulstube erschien, zog Mutter Petronella sie in aufrichtiger Freude in die Arme, und die Mädchen sangen und beteten für die restliche Unterrichtszeit. Antonia war, als käme nun endlich wieder Licht in ihren Alltag. Sie dankte Gott von ganzem Herzen, dass ihre beste und einzige Freundin wieder genesen war.
Drei Tage später war Vrena tot. Sie hatte sich mitten in der Nacht an ihrem Ledergürtel in der Latrine aufgehängt.
22 Abtei Marienau, am Tag nach Sankt Silvester 1522
H ast du denn keinerlei Zweifel, den Schleier zu nehmen?», fragte Antonia und betrachtete das Mädchen erstaunt.
Dorothea schüttelte den Kopf.
«Nein. An das Klosterleben bin ich ja seit Kindheit gewöhnt. Zwar stell ich mir die Pflichten als Nonne sehr hart vor, aber umso erträglicher werden sie mir dann wahrscheinlich vorkommen, wenn es so weit ist.»
Nachdem Antonia schwieg, fuhr sie fort: «Hat nicht ein jeder Stand seine Last? Man spürt immer nur die Dornen des eigenen.»
Darin musste Antonia ihr recht geben. Sie dachte an die Welt da draußen, die sie seit fast eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dachte einmal mehr an Vrena, die das Böse in dieser Welt in den Freitod getrieben
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