Die Himmelsleiter (German Edition)
Altomonte schon mit Wasserrädern oder ähnlich exotischen Gebilden beschäftigt hatte. Aber offenbar hatte sich sein Vorstellungsvermögen, sein ganzes Sehen, schon so weit entwickelt, dass er sich in dieser neuen Welt heimisch fühlte.
Er wischte mit der flachen Hand über die Tafel und schrieb schnell drei Differentialgleichungen.
"Damit l ässt sich ein solches System vollständig beschreiben."
"Wirkt ein bi sschen zu … einfach." Mir hatte primitiv auf der Zunge gelegen, aus Furcht, mich noch mehr zu blamieren, hatte ich aber im letzten Augenblick eine Abschwächung gewählt.
"Nicht wahr?" sagte er stattdessen.
Er versicherte mir, die drei Gleichungen hätten es in sich. An diesem Tag wurde der Grundstein gelegt, meine halbfertige Dissertation niemals zu beenden.
Altomonte redete über eine Stunde auf mich ein. Er zeigte mir lange Zahlenkolonnen, auf denen er die Zustände seines Systems notiert hatte, malte Achsen auf die schon vollgeschriebene Tafel und kritzelte darin herum, bis er so etwas wie eine Doppelspirale zustande gebracht hatte.
Der Tag war unterdessen zu Ende gegangen, und durch die verstaubten Fenster schimmerten nur noch die matten Überreste des erlöschenden Lichts hindurch.
Ohne es zu wissen, hatte ich den Lorenz-Attraktor vor mir. Heute kennt ihn jeder Student. Ich dagegen war mir damals keineswegs sicher, ob Altomonte nicht einfach einen Haufen Unsinn erzählt hatte.
"Du hast das entdeckt?" fragte ich vorsichtig.
"Dein Vertrauen in Ehren", er schien tatsächlich ein bisschen betrübt, "aber das ist mittlerweile ein alter Hut. Ein Meteorologe, ein gewisser Lorenz, ist draufgekommen." Er suchte aus einem Stapel Papier ein paar verwaschene Nasskopien heraus und reichte sie mir.
Ich las den Titel: Deterministic Nonperiodic Flow . Der Artikel war aus dem Journal of the Atmospheric Sciences von 1963.
Damals dachte ich, Altomonte sei, genauso wie sp äter ich, von der Unberechenbarkeit des Lorenz'schen-Wasserrades fasziniert. Erst viele Jahre später sollte ich verstehen, dass ihn die Stabilität fast mehr interessierte, die verschiedenen Phasen relativer Ruhe, die das System durchlief, ehe es außer Kontrolle geriet. Er suchte den Punkt, an dem alles umkippte, den kritischen Übergang zwischen der beruhigenden Berechenbarkeit und der alles verschlingenden Katastrophe. Er würde sich so weit wie möglich aus der Übersichtlichkeit der festgefügten Ordnung hinauswagen, um auf jener schmalen Kante zu balancieren, die vom Abgrund trennte. Wie der Surfer trachtete er danach, auf der größten aller möglichen Wellen zu reiten. Dort oben würde er ein Gott sein.
"Hanno assassinato Dutschke!"
Alessandra stand plötzlich im Zimmer. Ihre dunklen Augen blitzten. Sie war außer Atem vor Empörung. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf ihren Busen starrte, der unter ihrem karierten Hemd sprang. Obwohl ich ungefähr verstanden hatte, was vorgefallen sein musste, war ich mehr von ihr als von der Ungeheuerlichkeit des Geschehenen beeindruckt. In ihrer ungezügelten Entrüstung schien sie mir die schönste Frau zu sein, die mir jemals begegnet war. Allein schon deshalb hatte sich der Besuch bei Altomonte gelohnt.
Drau ßen war es frisch. Über die Hauptstraße rumpelte eine halbleere Straßenbahn. Die Geschäfte hatten mittags dichtgemacht, und die wenigen Einheimischen, die noch unterwegs waren, schienen mehr an das bevorstehende Osterfest zu denken als an sonst was. Wenn wir erwartet hatten, wütende Menschenmassen zum Universitäts- oder Bismarckplatz strömen zu sehen, wurden wir enttäuscht. Es gab nur wenige Gestalten, die, wie wir, die Straße nach Anzeichen von außergewöhnlichen Aktivitäten absuchten, unschlüssig, was zu tun sei. Schließlich gingen wir zum AStA. Wenn überhaupt jemand wusste, was los war, dann erfuhr man's dort.
Dass wir zu dritt losgezogen waren, hatte wenig mit den sich überschlagenden politischen Ereignissen zu tun. Zunächst hatte es so ausgesehen, als ob Altomonte viel lieber mit seinem Wasserrad weitergespielt hätte. Wir hatten kaum die wichtigsten Einzelheiten erfahren und kommentiert, da wollte er mich wieder hinter den Schrank zu seinem Bassin ziehen.
"Ja, geh hin, sch öne Alessandra, und kämpfe für die Revolution. Wir werden deiner gedenken."
Ihre Emp örung hatte sich, falls möglich, einen Tick gesteigert. Die Fäuste in die Seiten gestemmt, fragte sie entgeistert: "Willst du sagen, dass ihr weitermacht, so …", sie suchte nach Worten, "als ist
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