Die Himmelsleiter (German Edition)
demonstrierten, um Alessandra herumscharw enzelten oder anderen Frauen nachstiegen, was bequemerweise oft aufs Gleiche herauskam, arbeiteten wir an unseren Dissertationen. Von mir kann ich behaupten, dass dies nun noch lustloser geschah als zuvor, und auch Altomonte schien nicht gerade zielstrebig auf sein Ziel loszusteuern.
An einem dieser schon warmen Maiabende sa ßen wir auf seinen Matratzen in der Palatina. Wir waren den halben Tag im Laufschritt hinter einem Schild durch die Stadt gehetzt, auf dem Es lebe der Sieg im Volkskrieg! gestanden hatte. Jetzt spürten wir jeden Knochen. Alessandra hatte uns vor einer Stunde mit einer Zweiliterflasche Lambrusco alleingelassen.
"Wei ßt du, Heilant", obwohl er mich immer häufiger mit meinem Vornamen anredete, blieb ihm dieses Heilant bis zuletzt geläufig, "ich habe das Gefühl wirklich zu leben."
Es sah ihm nicht ähnlich, sehr persönlich zu werden, und so richtete ich mich ein wenig auf, neugierig, mehr über den Freund zu erfahren. Da ich keine Ahnung hatte, was er meinte, brummte ich etwas, das wie ein 'Ach, ja?' klingen sollte.
"Ich wei ß nicht, ob es mir jemals vorher schon so ging." Er lag mehr, als dass er saß, und balancierte ein halbvolles Glas auf der knochigen Brust. Im Hintergrund trällerte eine seiner Jazz-Platten. "Kennst du das? Du bist wirklich da?! Du stehst auf der Straße und spürst die Steine unter deinen Füßen, du riechst die Luft, den Staub und den Moder der Häuser, den frischen Asphalt, das Brot vom Café nebenan?! Ein Mädchen kommt dir entgegen und lächelt, und du glaubst, ihre warme Haut zu spüren, wenn sie vorbeigeht?!" Mit einem Ruck setzte er sich auf, und ich spürte, wie mich seine Begeisterung wieder einmal ansteckte und mitriss. "Oder es ist Nacht, und du schaust zu den Sternen, und du fühlst dich geborgen, die Welt um dich herum ist dir freundlich gesinnt!" Er lächelte selig und trank einen Schluck. "Dann fühle ich, dass ich da bin, ohne wenn und aber da! Tommi, es geht mir einfach gut."
Das war das einzige Mal, dass ich einen solchen Satz aus seinem Mund hörte.
Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht an diesen Maitagen, die auch in mir eine Ahnung von dem geweckt hatten, was Altomonte gerade beschrieben hatte. Ein Gef ühl der Allmacht lag in der Luft. Diese Omnipotenz, mit der wir uns alles unterwerfen konnten, schaffte sich ihre eigene Wirklichkeit.
Zu Sartre war es nur ein kleiner Schritt. Wir diskutierten nicht das erste Mal über Existenzialismus, und es sollte auch nicht das letzte Mal bleiben. Und doch, wenn ich heute daran denke, nimmt diese Stunde den bevorzugten Platz in meiner Erinnerung ein.
Altomonte trank und rauchte gleichzeitig. "Das Entscheidende ist: Wie kommst du an diesen Punkt. Wie wirst du dir deiner bewu sst?" Er sah auf das unförmige Ding, das zwischen seinen gelblichen Fingern verbrannte, und mochte daran denken, dass Sartre die gleiche Marke rauchte. "Nein, es ist mehr als ein Sich-bewusst-werden, du musst dir deine Existenz schaffen, verstehst du? Regelrecht schaffen!" Er kramte hinter der Matratze und förderte ein Taschenbuch zutage. Bald hatte er die Stelle gefunden:
"Die Existenz ist nichts, was man aus der Entfernung denken kann: das muss dich plötzlich überfluten, das bleibt über dir, das lastet schwer auf deinem Herzen wie ein großes unbewegtes Tier - sonst ist da gar nichts."
"Und wie schaffst man sich seine Existenz?" Ich war der Stichwortgeber und sollte es bleiben.
Altomonte grinste. "Durch ein existenzielles Erlebnis nat ürlich!" Dann zuckte er die Achseln. "Durch Angst, den Tod, für Sartre durch den Ekel, für andere durch die Religion … Vielleicht gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Ich weiß es nicht."
Er k önne sich auch andere Situationen vorstellen, meinte er dann, nachdem er nachgedacht hatte. Die Erfahrung von Schuld zum Beispiel oder von Stolz. Das schien ihn auf eine neue Idee zu bringen. "Und weißt du, was die Voraussetzung für Schuld oder Stolz ist? Dass ich eine Wahl hatte, oder?! Dass ich mich so, aber auch anders hätte entscheiden können. Und es gibt tatsächlich diese Freiheit. Nichts ist im Voraus endgültig festgelegt! Es kann sich vorwärts, aber auch plötzlich wieder rückwärts drehen." Er war wieder bei seinem Wasserrad.
Altomonte, der Vork ämpfer für die Freiheit. Er war und blieb ein kleinbürgerlicher Reaktionär. "Du bist ein hoffnungsloser Idealist!" sagte ich.
"Heilant, du hast einen Schei ßdreck verstanden!" brüllte
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