Die Himmelsleiter (German Edition)
entgegen, dorthin, wo schuldbewusste Väter mit vernachlässigten Töchtern fliegen. Um sie richtig bei sich aufzunehmen, fehlte ihm die Zeit. Seine Arbeit nahm ihn völlig in Anspruch, und, so sehr er es bedauerte, er blieb ein gutgelaunter Freizeitvater für wenige Wochen im Jahr.
Chloé hatte ein kleines Apartment in der Rue de Granges , der vornehmsten Genfer Adresse. Es lag unterm Dach eines jener herrschaftlichen Häuser, die, im Stil Ludwigs XV. erbaut, lange Fronten zur Rampe de la Treille bilden. Ich hatte mich angeboten, sie die wenigen Straßen nach Hause zu begleiten, so als sei ich der Einheimische und sie mein Gast. Als ich mich vor dem großen Portal verabschieden wollte, nahm sie mich beim Arm und zog mich in den Hausflur. Durch die halbkreisförmige Lünette oberhalb des Eingangs drang ein wenig Licht. Ich müsse unbedingt die andere Seite sehen, sagte sie, manchmal sei das, was sich hinten verstecke, schöner als das, womit nach außen geprotzt werde.
Wir gingen durch einen halbdunklen Gang. Breite Steinstufen f ührten hinauf zu den Wohnungen. Es roch nach Salmiak. Hier war es noch kälter als draußen. Durch die Hintertür gelangten wir wieder ins Freie. Ein paar Stufen führten auf eine offene Terrasse. Ihre weißen, von den Jahren glattpolierten Steinplatten gingen in einen kurzgeschorenen englischen Rasen über. Büsche, Bäume, einige Statuen standen an den passenden Stellen. Der gutgepflegte Garten endete nach zehn Metern an einer hüfthohen Mauer aus weißen Marmorsäulchen. Dahinter ging es steil auf die Rampe hinunter. Überall hingen kahle Weinranken wie verknöcherte Seile. Im Sommer würde ein grüner Wasserfall in die parkähnliche Landschaft darunter stürzen. Ich atmete tief ein und sah mich blinzelnd um. Die Anlage war mir vertraut, als sei ich schon einmal hier gewesen. Sie erinnerte mich an eine toskanische Villa in Collodi.
Von der Terrasse konnte man über eine Freitreppe auf eine schmale Loggia im ersten Stock gelangen. Die Holzläden der Fenster waren zugezogen. Lange Säulen zogen sich bis zum Dachansatz hinauf. Die Deckenhöhe nahm von Stockwerk zu Stockwerk ab. Das Haus schien zusammengestaucht worden zu sein, je höher es gewachsen war. In den Spitz- und Rundgiebeln des Daches prangten Stuck- oder Steinreliefs. Was sie darstellten, war vom Garten aus nicht zu erkennen. Chloé zeigte auf drei winzige Gauben, die wie aufgeklebt aus dem verblassten Ziegelwerk des Daches ragten. Dort wohne sie. Die Zimmer seien klein, die Decken niedrig und die Wände schief, die Aussicht aber unvergleichlich.
Sie hatte kein Telefon, und in den zwei Wochen, die uns noch blieben, stand ich mehr als einmal hier unten und blickte hinauf wie zu einem verwunschenen Schloss. Tageweise verschwand sie, ohne zu sagen wohin, um dann ohne eine Erklärung wieder ganz selbstverständlich vor mir zu stehen. Sie war die Märchenprinzessin, die nur zu bestimmten Stunden, vielleicht auch Tagen, zu mir in die weltlichen Niederungen hinabsteigen durfte. Wurde sie gefangen gehalten dort oben in ihrem Türmchen? Führte sie ein Doppelleben an der Seite eines mächtigen und gestrengen Königs? Wenn ich fröstelnd und immer erfolglos in ihrem Hinterhof auf sie wartete, die steinerne Aphrodite begehrlich umrundend, behielt ich ihre Fenster im Auge, so als könne sie in anderer Gestalt nach Hause geflogen kommen oder ihr langes Haar einladend herunterlassen.
Auf dem R ückweg bummelte ich durch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen um die St. Germain-Kirche, kam am Rousseau-Haus vorbei und ging um die Kathedrale herum. Die Geschäfte waren noch geschlossen, und ich spähte durch die dicken Scheiben der Schaufenster auf Schmuck, Lederwaren, auf teure englische Pullover und leichte italienische Anzüge. Zum damaligen Zeitpunkt spielte ich noch mit dem Gedanken, mir am Ende meines Aufenthaltes in der Schweiz eine schöne Armbanduhr zu kaufen - als Erinnerung oder als Belohnung, je nachdem, was sich noch tun sollte.
Regen war gemeldet worden, und doch schoben sich nur vereinzelt Wolken vor die Sonne.
Nach meiner zweiten oder dritten Runde durch die Altstadt hatte ich mich zu einem Entschluss durchgerungen. Zuerst war ich mehr zufällig am Kommissariat vorbeigekommen, hatte mir dann zwischen einem Schaufenster und dem anderen die zerknitterte Gestalt des Kommissärs vorgestellt und war von Mal zu Mal fröhlicher geworden. Jetzt, da die Spannung langsam wich, überkam mich eine bleierne Schwere. Nur jemand, der
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