Die Himmelsleiter (German Edition)
noch müder aussah, als ich mich fühlte, konnte mich aufheitern. Ein kleiner Plausch mit dem alten Herrn täte mir gut.
Montaigne tat so, als seien wir verabredet. Er verschwand fast hinter seinem riesigen Schreibtisch. Der Raum war sp ärlich möbliert, die Wände waren kahl. Hinter ihm hing das Porträt eines Mannes. Alles war gelblich vom Rauch seiner Zigaretten.
Ohne seine Haltung zu ändern, bedeutete er mir, Platz zu nehmen. Den Kopf in die Rechte gestützt, brütete er weiter über eine Stellung, die er vor sich auf einem handflächengroßen Schachbrett aufgebaut hatte. Seine Fingerkuppen berührten die Plastikköpfe der winzigen Magnetfiguren, als wollte er sie streicheln.
Er sah auf. "Spielen Sie Schach?"
Mit vier hatte mir mein Großvater die Regeln und bald darauf das Spielen beigebracht. Mit grimmiger Miene kündigte er stets an, mir eine gehörige Lektion erteilen zu wollen - "Ich werde dir die grünen Mäuse zeigen", pflegte er zu sagen, was heißen sollte: "Dir wird Hören und Sehen vergehen."' -, und ließ mich dann meistens gewinnen. Erst Jahre später, in einem Frankfurter Verein, kam ich dahinter, dass ich längst nicht so gut war, wie mein Großvater mich hatte glauben machen. Um daran zu arbeiten, fehlte mir der Ehrgeiz, und ich wurde ein mittelmäßiger Freizeitspieler. Mit Meike hatte ich oft gespielt, auch anfangs in der Wohngemeinschaft. Aber es waren Spiele wie häufig bei Paaren, mehr gemeinsames Ausruhen, Abschweifen, ein bisschen wie zusammen fernsehen.
Die Fernpartie ging schon über Jahre, erzählte der Kommissär. Lublinski, ein pensionierter Kollege und Freund, war der Gegner. Alle paar Wochen wurde ein Zug per Post ausgetauscht; bei der Gelegenheit schrieben sie sich auch ein paar Zeilen. Aber es waren die Schachfiguren, die den Schriftwechsel vorantrieben. Er sprach von Lublinski wie von jemanden, den er beneidete und gleichzeitig längst abgeschrieben hatte.
Die Er öffnung mit ihren schematischen Positionen lag hinter ihnen, und das Mittelspiel war in vollem Gange.
"Fernschach hat seine eigenen Gesetze." Montaigne sprach langsam und keuchte zwischen einzelnen Worten oder machte eine Pause, wenn ihn wieder einmal ein Hustenanfall überwältigte. "Manchmal sitze ich tagelang davor und habe die Stellung trotzdem nicht verstanden. Sie ist außerordentlich komplex. Jede Figur hängt mit jeder der anderen Figuren zusammen." Er versuchte zu lächeln. "Eine Binsenwahrheit, nicht wahr? Und doch habe ich noch kein Spiel erlebt, für das diese Banalität mehr gegolten hätte. Sehen Sie", er tippte mit zittrigen Fingern die Türme an, "er hat seine schweren Geschütze aufgefahren, ich habe meine schweren Geschütze aufgefahren. Zug um Zug ist etwas dazugekommen. Jetzt haben wir ein gewaltiges Netz an Bedrohungen aufgebaut, ein Netz, das so dicht geworden ist, dass wir uns heillos darin verstrickt haben. Jede Bewegung kann das Ende bedeuten." Er schüttelte bekümmert den Kopf, und es war, als spräche er von einer besonders blutigen Schlacht in einem weit entfernten, geheimen Krieg. "Kann ich die Königinnen tauschen? Den Turm auf der Königsseite? Kann ich überhaupt irgendetwas machen, ohne dass alles zusammenbricht? Ich weiß es nicht."
Der Kommiss är schob das Spiel weg und seufzte. "Es wird Sie interessieren, aber wir haben uns geirrt", seine Stimme war dünn und schwankte, ohne die richtige Tonhöhe zu treffen. Ich fragte mich, wen er alles mit diesem wir meinte. "Der Tote ist nicht White." Es klang wie 'White ist nicht tot.' Aber das war ein unzulässiger Umkehrschluss.
Er berichtete von der Identifizierung, die ganz anders verlaufen war, als ich sie mir vorgestellt hatte. Die sch öne Schwester war tatsächlich gefasst gewesen, noch bevor aber das klamme Laken die aufgequollenen Züge der Leiche hätte freigeben können, war ihr ein erleichtertes "Das ist nicht Kenny!" entschlüpft. Am großen Zeh des Opfers war eine Nummer mit Draht befestigt gewesen, und als dieser die Füße voran aus seiner Schublade geschoben wurde, hatte dieses einzelne zu platte, aber dafür krumm geratene Körperteil ausgereicht, um jeden Zweifel auszuschließen. Die Schadenfreude habe den anderen im Gesicht gestanden, und der Geheimdienstmann habe den Kopf geschüttelt, sagte der Kommissär schaudernd. Wer der Tote gewesen sei, wollte ich wissen. Er zuckte mit den Schultern. Ein Drogenhändler, ein Terrorist, ein Politiker? Er wolle es gar nicht wissen, solle sich jemand von der Mordkommission
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