Die Himmelsmalerin
Bethe verschämt das Tuch von ihrem Mund, schob sich die blonden Haare aus der Stirn und begann zu sprechen.
»Ich glaub, ich hab jemanden gesehen«, sagte sie leise. »Heut Morgen, als die Schenke sich zu füllen begann. Ich stand an der Theke. Er ging gerade durch, an mir vorbei, mit unheimlich starrendem Blick.« Sie begann zu weinen. »Ich hab ihm sogar noch etwas zugerufen, aber in dem Moment ging ein Tonkrug zu Bruch.« Ihr strafender Blick blieb an den Gerbergesellen hängen. »Ein gefüllter. Und da hab ich ihn einfach vergessen.«
Kilian schnaubte. Wie konnte man nur so schlecht auf seine Schenke aufpassen!
»Beruhigt euch, Bethe«, sagte Lionel Jourdain sanft. »Ihr helft uns allen weiter, indem Ihr Euch, so gut es geht, erinnert. Kanntet Ihr den Mann?«
Bethe schaute sich um, zog die Nase hoch und fuhr fort. »Ich bin mir nicht sicher, ob er aus Esslingen war. Er trug einen Brustpanzer und hat sein Gesicht unter einem Helm verborgen.«
»Ein Mitglied der Stadtwache?«, schlug der Hardenberger vor.
»Nein«, überlegte Bethe. »Auf die Schnelle hab ich keinerlei Abzeichen auf seiner Rüstung gesehen. Und sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.«
Bruder Thomas, der die ganze Zeit neben dem toten Fredi gekniet und gebetet hatte, richtete sich mühsam auf und schaute ihr ins Gesicht. »Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen, Bethe. Der Mörder wollte nicht erkannt werden und wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Für mich steht fest, dass es sich um einen Mann mit Kampferfahrung handeln muss und dass er wahrscheinlich nicht aus Esslingen kommt.«
»Aber warum sollte er den Jungen erschlagen?« Als sich der Hardenberger aufrichtete, hielt er sich ächzend das Knie.
»Den Grund werden wir herausfinden«, sagte Bruder Thomas mit einer Zuversicht, die Kilian rätselhaft war. »Und genauso, durch wen Bruder Ulrich und Marx Anstetter zu Tode kamen. Das duldet keinen Aufschub. Ihr, Meister Ziegler, ruft die Stadtwache und den Büttel und kümmert Euch um die sterblichen Überreste des armen Jungen.«
Der Zieglerwirt nickte bekümmert und hob dann alarmiert den Kopf. Qualm stand in der Luft.
»Mein Kraut!«, rief die Magd, raffte ihren Rock bis über die Knie und rannte ins Haus.
Wie auf ein Zeichen machten sich der Ritter, der Glasmaler, der Arzt und Kilian durch die leergefegte Schenke nach draußen auf, wo sie die milde Sonne eines weiteren hellen Herbsttags erwartete. Der Recke Josef folgte ihnen in gebührendem Abstand.
»Kann nicht doch Valentin Murner der Schuldige sein?«, fragte der Hardenberger, während sie den Krautmarkt überquerten.
»Valentin sitzt im Turm«, entgegnete Kilian kalt.
»Versteht Ihr noch immer nicht, dass alles miteinander verknüpft ist?« Lionel Jourdain schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es ist wie ein Netz, das sich immer enger um uns zusammenzieht, bis wir in den Maschen steckenbleiben.«
Kilian sah ihm die durchwachte Nacht an, in der er Lena ohne viel Hoffnung weitergesucht und sich dann im Morgengrauen an die Arbeit an seinem Chorfenster gemacht hatte. Er war blass, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.
»Aber wer steckt dahinter? Und warum?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte der Franziskaner. »Aber wir müssen es bald herausfinden. Denn Ihr müsst wissen, dass noch etwas anderes passiert ist. Lena Luginsland ist spurlos verschwunden.«
Der Hardenberger schwieg erschrocken. »Das war zu erwarten«, murmelte er dann mehr zu sich selbst und raufte sich die Haare. »Das Mädchen musste sich aber auch in alles einmischen!«
Obwohl Kilian sich vorgenommen hatte, nichts zu sagen, brach es aus ihm heraus. »Ihr müsst doch jetzt einsehen, dass Ihr einen schlimmen Irrtum der Justitia befördert, wenn Ihr Valentin weiterhin im Turm lasst. Er konnte Lena gar nicht verschwinden lassen, geschweige denn den Jungen töten.«
Der Hardenberger streifte ihn mit einem abschätzigen Blick – die Gugel, den Kittel, die Beinlinge. »Euer Knecht riskiert eine dicke Lippe«, sagte er zu Bruder Thomas. »Ich frage mich nur, woher er diese Wortwahl hat.«
Bruder Thomas lachte leise. »Unter der Kleidung eines braven Handwerkers verbirgt sich der hoffnungsvollste Novize in ganz Esslingen. Nur ist er gerade ein bisschen verhindert …«
Kilian, der spürte, wie sein Gesicht unter der Mütze heiß wurde, freute sich mehr über das Lob, als er gedacht hatte. Demnach war seine Laufbahn noch nicht zu Ende, auch wenn er nicht wusste, zu welchem Orden er gehören wollte. Es geht
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