Die Himmelsmalerin
nützlich, sich als das zu verkleiden, was man ist.« Er zog ihn am Ärmel. »Und wir haben keinerlei Zeit zu verschwenden, denn irgendwann heute Nacht solltest du im Kloster aufkreuzen. Bruder Thomas weiß, dass du später kommst.«
»Was hast du vor?«
»Einen kleinen Aufschub und etwas Stadtluft für dich. Wir gehen zum Spital und besuchen deine Mutter. Die hat sich in den letzten Wochen fast zu Tode gesorgt.« Er setzte sich wieder in Bewegung und durchquerte den östlichen Teil der Stadt, bis sie am Kornmarkt ankamen. Valentin schaute sich um. Vor ihm lag der Marktplatz, dessen Tische für die Nacht abgedeckt waren. Dahinter befand sich das Spital mit seinen vielen Gebäuden und Nebengebäuden, und über allem, bleich wie das Skelett eines riesigen Tieres, erhob sich der begonnene Chor der Liebfrauenkapelle.
»Sag, Valentin.« Kilian warf ihm einen Blick zu, den dieser nicht deuten konnte. »Wenn du hier jemanden verstecken wolltest. Wo würdest du das tun?«
Valentin lachte. Die Lösung lag für einen Esslinger Gassenjungen auf der Hand. »Wenn ich mich auskennen würde, natürlich in den Weinkellern unter dem Spital und in den Gassen drum herum. Ich würde schon einen verlassenen finden. Aber da der Mörder kein Esslinger ist, weiß er sicher nicht davon.«
»Nun, es ist alles reine Spekulation«, sagte Kilian, während sie die weitläufigen Gebäude des Spitals umrundeten. Obwohl es sich der Wohlfahrtspflege verschrieben hatte, gehörte es zu den reichsten Einrichtungen der Stadt. Die Augustinerbruder- und -schwesternschaft, die es leitete, betrieb mehrere Außenniederlassungen, Feldsiechenhäuser, ein Warzenhaus, ein Armenhaus sowie das Seel- und das Findelhaus. Die große Anlage mitten in der Stadt diente hauptsächlich als Pfründnerwohnstätte, in der arme und reiche alte Menschen unter der Obhut der Schwestern ihren Lebensabend verbringen konnten, und als Pilgerherberge für die Besucher der Stadtkirche. Das Spital verdiente besonders gut an den reichen Herrenpfründnern, die ihr Vermögen am Ende ihres Lebens an die Kirche überschrieben, um sich den Weg in die ewige Seligkeit zu erleichtern. Mit der Zeit hatte es Grundbesitz in hundertzehn auswärtigen Ortschaften von Wimpfen im Norden bis Wiesensteig im Süden gewonnen. So war man mit der Zeit auch der reichste Weinbergbesitzer in Esslingen geworden und kassierte Tribut von den Dörfern Deizisau, Möhringen und Vaihingen. Valentin wusste, dass sich die Keller des Spitals unter dem gesamten Gebäudekomplex hinzogen, und kannte den Eingang, seit seine Mutter Laienschwester geworden war. Verdammt, dachte er und bedauerte, keine Axt mitgenommen zu haben. Um das mutmaßliche Versteck zu finden, würde er eine verriegelte Tür einfach in Kleinholz verwandeln, auch, wenn der Rat und der Hardenberger dann vermutlich glaubten, er sei endgültig verrückt geworden – wie es sich für einen Meuchelmörder gehörte.
Während er so mit seinem Schicksal haderte, erreichten sie das Tor des Spitals. Kilian klopfte, und eine alte Pförtnerin öffnete ihnen.
»Zu Schwester Ruth wollt ihr«, sagte sie. Wohlwollend blieben ihre Augen am reich gekleideten Kilian hängen und glitten verächtlich über Valentin, dem man die Kerkerhaft ansah. Ich stinke, dachte er.
»Sie wird zu tun haben!«
»Ich bin angemeldet«, sagte Kilian befehlsgewohnt.
»Aber der da?«
Valentin wurde knallrot.
»Der da auch.« Kilian zog ihn am Ärmel in Richtung des Krankensaals. Das trübe Licht einer Öllampe fiel über die Betten der pflegebedürftigen Alten, die in Reih und Glied an der Fensterwand standen. Die Greise hatten eingefallene Gesichter, keine Zähne mehr, und oft genug trieb ihr Verstand ziellos in der Vergangenheit. Es war trostlos und roch schlecht. Obwohl die Schwestern den Raum regelmäßig ausräucherten und die Laken in Lavendelwasser wuschen, ließ sich der Geruch nach Kot und Urin kaum verbergen. Seine Mutter saß am Bett eines kahlköpfigen Mannes mit blassem Gesicht und dicken Tränensäcken unter den trüben Augen. Obwohl er aussah, als würde ihm der Tod auf der Schulter sitzen, öffnete er bei jedem Löffel Brei, den seine Mutter ihm gab, bereitwillig den Mund. Am Ende des Lebens, dachte Valentin, ist es egal, ob man reich oder arm ist, Ritter, Kaufmann oder Bettelmann. Dann freute man sich darüber, dass eine Schwester einem den Brei löffelweise reichte, über ein Lächeln und hin und wieder einen Sonnenstrahl.
»Schön schlucken!«, sagte Ruth, die,
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