Die Himmelsmalerin
Ruhe!«, rief Prior Johannes aufgeregt.
»Öffnet die Tür zur Sakristei und zur Klausur«, schrie Bruder Thomas.
Ein endlos langer Moment verging, eine halbe Ewigkeit für König Ludwig, dem Lionel noch immer nicht die Kehle durchgeschnitten hatte.
»Mach schon!«, rief es von hinten. »Geht das nicht schneller?« Und der Glasmaler wirbelte mit einer geschmeidigen Bewegung herum, schleuderte den Dolch auf Roteneck und traf ihn in die Brust. Röchelnd ging dieser zu Boden. Lenas Dolch hatte sein wahres Ziel erreicht.
»Aber Lionel«, sagte Ludwig und rieb sich den Hals. »Einen Augenblick lang habe ich geglaubt, Ihr wolltet mich töten.«
»Das sollte ich auch eigentlich.« Lionel trat auf Roteneck zu, zog den Dolch aus seiner Brust, richtete den Verletzten unsanft auf und legte ihn an seine Kehle.
»Wo sind sie?«, fragte er mit ruhiger Stimme. Nur wer ihn kannte, hörte seinen unterdrückten Zorn. Vier weitere Fenster brachen herunter. Splitter trafen die Umstehenden und ließen endgültig Panik ausbrechen, in der die Hofdamen sich gegenseitig mit ihrem hysterischen Kreischen ansteckten, Mönche und Honoratioren durcheinanderrannten und versuchten, durch die Sakristei zu entkommen. Die Menschenmenge im Langschiff schob sich zu den drei Westportalen.
»Bewahrt Ruhe!«, donnerte der König. »Der Attentäter ist entlarvt.«
Roteneck bedeutete Lionel, den Dolch von seiner Kehle zu entfernen. »Zu spät«, sagte er heiser und legte seine Hand auf die Brustwunde, doch das Blut floss durch seine gespreizten Finger wie ein unaufhaltsamer Strom. »Meine Leute sind hier. Wenn etwas schiefgeht, geben sie Nachricht, und die Geiseln werden getötet.«
»Welche Geiseln?« König Ludwig hatte sich hinter Lionel postiert und die Arme auf der Brust verschränkt. »Ich würde zu gern wissen, was hier vor sich geht.«
»Zunächst einmal …« Lionel richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ließ seine Stimme durch den Raum schallen. »Es wird nichts weiter herunterbrechen. Ich habe sechs Fenster präpariert, und die sind alle unten.«
Die Menschen kamen langsam zur Ruhe, doch als sie sahen, was im Chor vor sich ging, erstarrten sie vor Furcht. Des Königs Leibwache zog die Schwerter und wurde von einer Handbewegung Ludwigs gestoppt. Und Lionel fuhr mit seiner Erklärung fort.
»Er plante von langer Hand die Ermordung Eurer Majestät. Darum hat er in der Stadt Esslingen den Bußprediger Pater Ulrich, den Glasmaler Marx Anstetter und den Gassenjungen Fredi getötet oder töten lassen.«
Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. »Und dann hat er meine Verlobte Madeleine, die Tochter von Meister Heinrich Luginsland, den Novizen Kilian Kirchhof und ein weiteres Mädchen als Geiseln genommen, um mich zu zwingen, Euch umzubringen.« Meister Heinrich und der Bürgermeister hörten mit großen Augen zu.
»Lena!«, sagte Heinrich erstickt.
»Aber Raban, warum denn? Wir waren doch Freunde seit Kindertagen.« Ludwig beugte sich zu Roteneck hinab, aus dessen Mund ein dünner Blutfaden floss.
»Das hast du gedacht.« Der Verräter stöhnte und seine Worte kamen stockend. »Aber du weißt nicht, wie es in mir aussah. Du bist … nicht … der rechtmäßige König. Nicht, seit dein Vater Maria und ihre Hofdamen erschlagen hat.«
»Seine erste Frau, Maria von Brabant?« Der König richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. »Das war vor meiner Geburt, und ich stand meinem Vater niemals besonders nahe. Deine Großmutter war eine der Hofdamen, und deine Familie geriet in Armut. Aber ich habe doch alles für dich getan. Du wurdest doch königlicher Jäger und Bote.« Er schüttelte den Kopf. » Du warst es. Du hast den Brief an die Schlange in Avignon aufgesetzt, die sich Papst nennt.« Roteneck sackte weg, und nur Lionels Geistesgegenwart rettete ihn davor, doch noch mit dem Hals in der schärfsten Klinge Schwabens zu landen.
»Wo sind sie?«, fragte Lionel noch einmal, diesmal so laut, dass seine Stimme im ganzen Kirchenschiff zu hören war. Was war, wenn Roteneck starb, bevor er seine Männer zurückpfeifen konnte?
»Hier!«, schrie eine heisere Stimme vom Westportal her. Einen Moment lang wurde ihm vor Erleichterung schwarz vor Augen. Da standen sie, Valentin, Lena und das fremde Mädchen, und zwischen ihnen hing, mehr tot als lebendig, der Novize.
46
Lena saß am Tisch und aß Eierpfannkuchen. Martha hatte sie so hingekriegt, wie sie sie liebte, und ihr noch dazu einen Topf mit Zwetschgenmus auf den Tisch gestellt.
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