Die Himmelsmalerin
Sakramentsnische, in der sich Kelch und Monstranz befanden.
»Auch die Messgefäße sind Gottes Gegenwart angemessen«, sagte er. »Gerade so, wie es auch der heilige Franziskus gefordert hat. Gottes Herrlichkeit spiegelt sich in Gold, Edelsteinen und schönen Räumen, in denen die Künstler auf seine Schöpferkraft hinweisen.«
Vertieft in ihr angeregtes Gespräch, verließen die beiden den Chor.
Gutgelaunt spülte Lionel den letzten Bissen Brot mit einem großen Schluck Wein hinunter und ging dann wieder an die Arbeit. Er kletterte die Leiter zum Gerüst hinauf, flink und vollkommen schwindelfrei. Lena blieb unschlüssig im Chorgestühl sitzen.
»Ihr könntet mir helfen, Madeleine.« Der Schall verdoppelte ihren Namen. »Dann geht das Messen schneller.«
Zögernd stand Lena auf und putzte sich die klebrigen Hände an der Schürze ab. In Lionels Gegenwart fühlte sie sich linkisch und ungeschickt, aber gehen wollte sie trotzdem nicht so schnell. Er heiterte sie auf. Langsam und vorsichtig machte sie sich auf dem werkstatteigenen Gerüst an den Aufstieg. Auf einer der oberen Ebenen hatte sie noch nie gestanden. Zum letzten Mal hatte die Werkstatt das große Gerüst für die Ergänzungen der Glasmalereien in der Stadtkirche St. Dionys aufgebaut. Da hatte Großvater Lambert noch gelebt, der vor über fünfzig Jahren als junger Mann aus Speyer nach Esslingen gekommen war. Lena wusste, wie sehr der Alte seinem Sohn in der Stadtkirche auf die Finger geschaut, wie nichts seinen Vorstellungen von Perfektion entsprochen hatte. Die Verglasung des Hochchors war Männersache gewesen, doch jetzt war ihr Vater selbst ein alter Meister und konnte bald nicht mehr arbeiten. Einen Moment lang fragte sie sich, was Großvater Lambert sagen würde, wenn er wüsste, dass sie schon seit drei Jahren für die Bemalung der Scheiben zuständig war. Aber jetzt konzentrierte sie sich lieber auf den Aufstieg. Die Leitern zwischen den verschiedenen Ebenen des Gerüsts waren schmal und steil, und Lena fürchtete sich vor der zunehmenden Höhe. Der Apfel in ihrem Magen rumorte unangenehm. Umso mehr triumphierte sie, als sie oben angekommen war. Leicht schwindlig schaute sie von ihrem Platz hoch oben unter der Gewölbekappe nach unten, wo der Altar, das Chorgestühl, Taufstein und Ambo plötzlich winzig aussahen.
»Uff!« Sie wischte sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn und steckte sie hinters Ohr.
»Ihr seid mutig.« Lionel schüttelte lachend den Kopf. »Die meisten Mädchen wären zu zimperlich, um mir nachzusteigen.«
»Oh!« Lenas Wangen brannten. Das war ganz schön doppeldeutig.
»Nein, schon gut! Ich kann Eure Hilfe wirklich gut gebrauchen. Und Ihr kommt auf andere Gedanken.«
Lenas Gesicht wurde noch heißer. Er glaubte doch tatsächlich, dass sie dem vorübergehend verschwundenen Tübinger nachtrauerte. Schweigend machte sie sich an die Arbeit und hielt ihm das Winkeleisen, mit dem er die Maße von den einzelnen Scheiben abnahm und diese dann auf eine Holzplatte kritzelte. Die Zahlenwerte sagten ihr nichts. Er schrieb sie nicht in den römischen Strichen und Ecken auf, sondern in runden Gebilden, die den Buchstaben recht ähnlich sahen. »Arabische Zahlen«, meinte er. »Die machen das Rechnen erheblich einfacher.«
»Aha!«, sagte Lena verständnislos. »Schreiben könnt Ihr auch?«
»Natürlich!«
»Wo habt Ihr es gelernt?«
»Schaut euch um! In einem Kloster wie diesem.«
»Ich kann auch lesen. Schreiben nicht so gut, aber ein bisschen. Kilian hat es mir beigebracht.«
»Was, der übereifrige Novize? Na, dann wird sich Euer Tübinger aber freuen. Oder mag er lieber Frauen, die so dumm sind wie er selbst?«
Entrüstet wollte Lena etwas erwidern, sah dann jedoch den Schalk in seinen Augen und prustete los. »Er weiß es noch gar nicht«, gab sie schließlich zu.
»Und das sollte auch besser noch eine Weile so bleiben. Vorsicht!«, eine große Hand legte sich auf ihren Rücken. »Fallt nicht vom Gerüst!«
Sie arbeiteten gemeinsam, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Schon lange hatte Lena nicht mehr so viel Spaß gehabt. Überlegt und genau nahm der Burgunder Maß, so effektiv und schnell, dass sie bald Ebene für Ebene und Fensterreihe für Fensterreihe abgemessen hatten.
»Ihr liebt Eure Arbeit«, stellte sie fest.
»Merkt man das?« Verwundert richtete er sich auf. »Nun, Glasfenster fangen das Licht ein, das dürfte Euch als Glasertochter doch klar sein. Es ist eine reine Freude, sie zu
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