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Die Himmelsmalerin

Die Himmelsmalerin

Titel: Die Himmelsmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Rosenberger
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auffliegender Vogel. Valentin hatte ihn genauso wenig retten können wie seinen Vater. Im Osten graute der Sommermorgen, als er dem Dominikaner die Augen schloss. Was sagte man, wenn jemand starb?
    »Gott«, flüsterte er. »Vergebung« und noch so manches andere, nichts davon auf Latein. Gott würde sich schon aussuchen, was Vater Ulrich brauchte.
    Lange blieb er mit dem toten Mönch am Fluss sitzen, so lange, bis das Blut auf seinem Hemd zu stocken begann und die Hände klamm wurden in der Morgenkühle. Sein Kopf war wirr, und der leere Magen drückte wie ein schmerzender Knoten. Seine Tränen tropften auf Ulrich von Tecks starres Gesicht. Schließlich schlief er aus purer Erschöpfung ein, den Kopf über den toten Körper gebeugt.
    Doch dann war er plötzlich nicht mehr allein. Fröhlich schwatzend näherten sich die Wäscherinnen dem Fluss, die Körbe mit Dreckwäsche an ihre Hüften gedrückt. Er erwachte nicht von ihrem Geplapper, sondern vom entsetzten Schweigen, das sich über die Frauengruppe senkte, als sie ihn mit dem blutüberströmten Körper von Pater Ulrich auf dem Schoß sitzen sahen.
    Valentin richtete sich auf und legte den leblosen Mönch auf die Stufen. Es dauerte nur eine Sekunde.
    »Mörder!«, kreischte die dicke Hanna. »Der Valentin Murner ist ein Mörder!«
    Und dann stürzten sie sich auf ihn wie ein Schwarm zorniger Krähen und rissen an seinem Hemd, an der Hose und den Haaren. Mit letzter Kraft machte er sich los und lief davon, rannte und rannte, mühelos und so schnell wie der Morgenwind. Die Weiber hinter ihm hatten keine Chance. Fast hätte er gelacht. Gestern Abend hatte er sich gefragt, ob man noch tiefer sinken konnte. O ja, man konnte!

    Präzision! In allem, was er tat, bemühte sich der Jäger um Präzision und ärgerte sich unbändig, wenn seine Pläne nicht aufgingen. Bruder Ulrich hatte sterben müssen. Das hatte er gewusst, seit er ihm begegnet war. Aber nicht so. Unsauber. Er hatte sich den Ort und die Zeit gut ausgesucht, der Tote wäre am Morgen zufällig gefunden worden, aber der Junge war ihm in die Quere gekommen. Hatte er ihn erkannt? Unwahrscheinlich. Obwohl er seine Schachzüge immer gut vorbereitete, war ihm hier der Faktor Zufall in den Weg getreten. Aber wurde ein Spiel nicht erst dadurch zu einer wirklichen Herausforderung? Einen Gegner auszuschalten, davon verstand er etwas. Und was war der Junge mehr als ein Bauer, der dem Turm in die Quere gekommen war – der Figur, deren Züge unter allen auf dem Brett am schwersten vorhersehbar waren. Und dieser Turm hatte sich, so wie es in einem Schachspiel üblich war, zur Aufgabe gesetzt, den König zu vernichten.

9
    Als Lena auf die Straße hinaustrat, bauschte eine Windböe ihren Rock, und die Wolken glitten so leicht über den blauen Sommerhimmel wie die Wolleflocken, die sie an langen Winterabenden mit Martha verspann. Die Hitze, die für Menschen und Tiere eine Tortur gewesen war, hatte sich verzogen und frischem, wechselhaftem Wetter Platz gemacht. Trotz der frühen Stunde war das Gedränge in den Gassen schon dicht, denn heute war Jakobimarkt, und aus den ländlichen Vororten am Neckar und auf dem Schurwald strömten die Menschen in die Stadt. Die Händler boten Nadeln, Kochlöffel und bunte Bänder an, all das, was man auf einem Bauernhof nicht so leicht selbst herstellen konnte. Sie packte den Korb mit dem Frühstück für den Burgunder fester und drängte sich durch die Menge der Bauern und Händler. Eigentlich sollte sie sich frei fühlen, denn der Tübinger hatte Esslingen heute früh Hals über Kopf verlassen, um nach Hause zu reiten. Weil sein Vater krank geworden war, hatte er gesagt. Lena vermutete aber, dass ihm die Konkurrenz mit Lionel Jourdain auf den Magen geschlagen war. Doch anstatt zu springen und zu tanzen vor Freude, lag ihr der gestrige Abend auf der Seele wie ein dunkler Traum. Sie hatte Valentin den Laufpass gegeben. Der Schnitt zwischen ihnen war nicht mehr zu kitten, das wusste sie. Lena hatte nie zuvor jemandem bewusst weh getan und erstickte jetzt beinahe an ihren Schuldgefühlen. Entschlossen schob sie die Erinnerung an das Gespräch mit ihrem Freund beiseite und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben. Es war nicht weit von der Webergasse bis zur Franziskanerkirche am Holzmarkt.
    Freundlich grüßte sie einen der Mönche, der ihr aus dem offenen Portal entgegentrat, durchschritt das hohe, stolze Langhaus und stand schließlich im Chor.
    Weit oben unter der Gewölbekappe balancierte

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