Die Himmelsmalerin
Regen fiel weiter, langsam und stetig wie ein Vorhang, und durchnässte Valentin von Kopf bis Fuß. Der Fluss füllte sein Bett so schwer wie Tränen. Eine Bisamratte, die mit der Strömung geradeaus schwamm, hob den schmalen Kopf und musterte ihn. Na, Kumpel, dachte er. Konnte man noch weiter runterkommen? Das Leinenhemd, das beste, das die Mutter vom Vater für ihn aufgehoben hatte, klebte an seinem Körper, seine Haare tropften, doch das war ihm egal. In ihm war alles kalt und leer. Lena hatte sich entschieden – gegen ihn und für den verdammten Tübinger, den sie nicht einmal liebte. Was sollte er tun? Esslingen verlassen? Valentin schleuderte einen Stein ins Wasser, mitten in die gleichmäßigen Kringel, die die Regentropfen auf seine Oberfläche malten. Nein, er musste seine Lossprechung abwarten, aber um Lena und das Haus in der Webergasse würde er in Zukunft einen noch größeren Bogen machen als zuvor. Und dann würde er fortgehen und nie wieder zurückkommen.
Irgendwann hörte der Regen auf. Die Wolken verzogen sich und machten einem bleichen Sichelmond Platz. Unter einem Himmel voll wilder Wolkenfetzen machte Valentin sich zum Haus von Meister Heinrich Parler auf, wo er wohnte, seit er seine Lehre begonnen hatte. Seine Mutter sah er nur am Sonntag nach der Messe. Er würde ihr nichts erzählen, er war ja kein kleines Kind mehr, das sich unter ihren Röcken ausweinte. Und wenn er es täte, war ohnehin klar, was sie ihm antworten würde: Gebrochene Herzen heilten irgendwann, im Gegensatz zum zerschmetterten Rückgrat eines Baumeisters, der vom Gerüst gefallen war. Allein und ziellos streifte er durch die windige Nacht, die nach neuem Regen roch. Still war es, die Fensterläden waren geschlossen, und sogar die Zecher aus der Zieglerschenke hatten nach Hause gefunden. Er stand unter dem Südturm der Stadtkirche zwischen den Gräbern und schaute hinauf. Der Turm war schön, zierlicher als sein Gefährte auf der Nordseite, voller Maßwerk in den Fenstern. Hier war sein Vater abgestürzt, der Bauplan des Turms von einem neuen Meister weitergeführt worden. Der Wind fuhr unter sein nasses Hemd und ließ ihn frösteln.
Dann hörte er es.
Zwei Männer stritten, nicht weit entfernt. Die Stimme des einen kam ihm vage bekannt vor. Halt dich raus, dachte er. Der Streit wurde lauter, der Mann, der sich im Recht wähnte, sprach drängend auf den anderen ein, versuchte ihn wortreich von etwas zu überzeugen. Und dann verstummte er. Mitten im Satz.
Valentin stürmte los, bog um die Ecke der Allerheiligenkapelle zum Schleifbuckel ein, polterte die Treppe zur Mühle herunter und sah sie. Zwei große Männer rangen da miteinander, auf den Stufen zum Ufer des Kanals, der das Mühlrad betrieb, beide in lange Mäntel gehüllt. Ein schwarzes und ein weißes Gewand verschmolzen im bleichen Licht der Sterne wie zwei kämpfende Schlangen. Doch der Kampf war entschieden. Der Schwarzgekleidete zog den Weißen auf die Füße, drückte ihn mit dem Rücken fast liebevoll an seine Brust und …
»Halt!«, schrie Valentin.
Doch es war zu spät. Der Mann zog seinem Gegner sein Messer über die Kehle und rannte lautlos davon in Richtung Metzgerbach. Valentin setzte ihm ein paar Schritte nach, doch vergeblich. Der Mann war so schnell, dass er nur einen dunklen Mantel sah, der sich im Nachtwind blähte wie die Flügel einer Fledermaus.
Mit einem großen Schritt war er bei seinem Opfer und kniete sich auf den Boden.
»Pater Ulrich.«
Vergessen waren die Angst und der Respekt, die er noch heute Mittag dem Mönch gegenüber empfunden hatte, und hatten reinem Mitleid Platz gemacht.
Denn er war zu spät gekommen und konnte nichts mehr tun. Er packte den Sterbenden unter den Achseln und zog ihn so nahe zu sich heran, dass dieser fast auf seinem Schoß lag. Die Hände des Dominikaners pressten sich an seine Kehle, aus der das Blut rhythmisch hervorschoss und jeden Versuch, nach Luft zu schnappen, gurgelnd erstickte.
Auch Valentin drückte verzweifelt auf den Schnitt, presste die Kehle zusammen und wusste doch, dass es zu spät war. Der rote Lebenssaft war überall, tränkte die weiße Kutte des Mönchs, die Stufen zum Fluss, wo das Wasser vorbeischoss, und Valentins Kleider. Er hatte nicht gewusst, dass ein Mensch so viel Blut hatte. Vater Ulrich versuchte Luft zu holen, die Hand ruderte weg von seinem Hals, er röchelte noch einmal und sank dann in seinen Armen zusammen. Etwas löste sich mit dem letzten Atemzug, wie ein
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