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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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du gehen musst, um nach Hause zu kommen. Sie sagen dir, wann die Saat ausgebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen. Sie verraten dir, ob der nächste Winter hart oder mild wird, der nächste Sommer trocken oder kalt, ob der Schnee früh fällt und die Flüsse Hochwasser führen, wenn das Frühjahr kommt. Alle Antworten sind dort oben zu finden, Arianrhod. Wir müssen nur lernen, die richtigen Fragen zu stellen.«
    Und ganz plötzlich begriff sie, wie wenig sie in Wahrheit über ihre Mutter wusste. Sie hatte geglaubt, alles über sie zu wissen, spätestens seit ihrem Gespräch auf der Waldlichtung, als sie vom Untergang ihrer Heimat und ihrer verzweifelten Flucht erfahren hatte, und in gewissem Sinn stimmte das sogar - sie wusste so unendlich viel mehr über ihre Mutter als irgendein anderer Mensch auf der Welt, vermutlich sogar mehr als Dragosz - und zugleich wusste sie rein gar nichts von ihr. Arris bewusste Erinnerungen reichten vielleicht sieben oder acht Sommer zurück, und sie wurden dünner und schemenhafter, je weiter sie zurückreichten, doch das Leben ihrer Mutter hatte nicht in jener Zeit begonnen, nicht einmal erst dann, als sie aus ihrer Heimat geflohen oder als sie, ihre Tochter, zur Welt gekommen war.
    Es war dieser Augenblick, in dem Arri zum ersten Mal und mit erschütternder Wucht klar wurde, dass die Frau, die nun neben ihr stand und ihre Mutter war - und der sie nicht nur ihr Leben verdankte (und das gleich zweimal), nein, alles, was sie wusste, was sie war und was sie vielleicht irgendwann einmal werden würde -, nicht sehr viel mit der Leandriis zu tun hatte, die sie einst gewesen war. Mit ihrer Flucht aus ihrer sterbenden Heimat hatte sie nicht nur ihren Namen abgelegt und all ihr weltliches Hab und Gut verloren, ihre Familie, ihr Zuhause, sondern wortwörtlich ihr Leben. Ein kalter Schauer rann über Arris Rücken, als sie noch einmal an den sonderbaren Gesang zurückdachte, der sie hierher gelockt hatte. So fremd und vollkommen anders, wie diese Worte in ihren Ohren geklungen hatten, so vollkommen fremd und anders musste ihr Leben gewesen sein, das sie vor dem Untergang ihrer Heimat geführt hatte. Vielleicht dachte sie nicht einmal wie die Menschen hier. Vielleicht nicht einmal so wie sie.
    Als hätte sie die Trauer gespürt, die Arri mit einem Mal ergriffen hatte, riss Lea den Blick vom Himmel los und drehte sich nicht nur ganz zu ihr um, sondern ließ sich leicht in die Hocke sinken, sodass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Und als sie weitersprach, bewiesen ihre Worte, dass sie ihre Gedanken, wenn schon nicht gelesen, so doch ziemlich genau erraten hatte.
    »Ich werde dich diese Sprache nicht lehren, Arianrhod«, sagte sie, »denn sie ist so tot wie die Götter, die sie einst gesprochen haben. So tot wie unsere Vergangenheit. Und ich werde auch keine weiteren Fragen über meine Heimat und mein früheres Leben beantworten. Die Vergangenheit ist tot, und keine Macht der Welt kann sie zurückbringen. Du musst nach vorn schauen, hörst du? Du gewinnst nichts dabei, einer Zeit nachzutrauern, die nie wieder kommen wird und die du niemals erlebt hast.« Ohne die Hand von Arris Schulter zu nehmen oder ihren Blick loszulassen, griff sie mit der anderen Hand hinter sich und zog das Schwert aus dem Boden. Sie hielt Arri den verzierten Griff so dicht vor das Gesicht, dass sie zurückgeprallt wäre, hätte Leas andere Hand sie nicht zugleich so festgehalten.
    »Du musst mir etwas versprechen, Arianrhod«, sagte sie, und in ihrer Stimme war plötzlich ein Klang, der Arri schaudern ließ. Sie versuchte abermals und mit nun schon deutlich mehr als sanfter Gewalt, sich loszureißen, doch der Griff von Leas so zart erscheinenden Händen war so hart wie das Zaubermetall, aus dem ihr Schwert geschmiedet war. Ihr Blick wurde bohrend, und schließlich nickte Arri zögernd.
    »Ich habe dich schon einmal darum gebeten, aber ich weiß, dass du es damals wahrscheinlich nicht verstanden hast. Das konntest du gar nicht. Aber jetzt meine ich es bitter ernst, Arianrhod. Ich weiß nicht, was morgen geschieht, oder am Tag danach. Doch was immer es ist, du musst mir eines versprechen. Wenn du dich zwischen mir und diesem Schwert entscheiden musst, Arianrhod, dann wähle das Schwert. Es ist alles, was zwischen dir und einem Leben in Barbarei und Schrecken steht.«
    Sie ließ Arris Schulter los, richtete sich auf und forderte sie zugleich auf, nach dem Schwert zu greifen. Arri zögerte,

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