Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
sich mit gesenkten Häuptern und rückwärts gehend wieder entfernten.
    Arri war nicht die Einzige, die das Geschehen ebenso neugierig wie mit Staunen verfolgte. Nahezu jeder, der zusammen mit ihr und ihren Bewachern oder auch durch einen der anderen Zugänge hier hereingekommen war, stand mehr oder weniger hilflos da und blickte entweder Nor und die anderen Priester oder den Altar oder auch die riesigen Wände aus zusammengebundenen Baumstämmen an, und endlich verstand Arri. Was sie auf den Gesichtern all dieser Menschen las, das waren nicht nur Neugier und Ehrfurcht, sondern auch Scheu und Erstaunen und hier und da vielleicht doch so etwas wie Verwirrung oder angedeutete Enttäuschung. All diesen Menschen hier, das begriff sie plötzlich, war das Innere des Heiligtums ebenso fremd und unbekannt wie ihr. Nach dem, was Nor heute Morgen gesagt hatte, war sie einfach davon ausgegangen, dass er seine Untertanen oft hier zusammenrief, um gemeinsam mit ihnen zu beten und den Göttern zu opfern, doch das schien nicht zu stimmen.
    Obwohl es unmöglich war, dass Nor und die anderen Schamanen ihre Annäherung nicht bemerkt hatten, wandte sich der Hohepriester erst zu ihr um, als sie den Altarstein in der Mitte des Platzes erreicht hatte und stehen geblieben war, und auch dann erst, nachdem er noch eine geraume Weile hatte verstreichen lassen. Der Blick, mit dem er Arri maß, war ebenso kühl wie abschätzend; Arri entdeckte nicht die geringste Spur von Mitleid darin, oder auch nur das allerkleinste all jener Gefühle, die er zuvor angeblich für sie empfunden hatte. »Ah«, begann er mit schlecht geschauspielerter Überraschung. »Arianrhod. Es ist wohl an der Zeit.«
    Augenblicklich wurde es still, denn auch die anderen Priester unterbrachen ihre Gespräche. Das aufgeregte Murmeln und Wispern der Menschen ringsum verstummte nach und nach, als sich die Stille auf dem großen Platz ausbreitete wie eine kreisförmige Welle, die ein ins Wasser geworfener Stein verursachte. Nor wartete mit erstaunlicher Geduld, bis es so ruhig geworden war, wie es Arri angesichts einer so großen Menschenmenge nur möglich schien, dann hob er betont langsam den Kopf und sah aus zusammengekniffenen Augen in den Himmel hinauf. Obwohl er direkt in die grelle Sonnenscheibe blickte, blinzelte er nicht ein einziges Mal. »Es ist an der Zeit«, sagte er, noch einmal und jetzt hörbar lauter. »Lasst uns beginnen.«
    »Ich halte es immer noch für Zeitverschwendung«, protestierte Sarn. Er streifte Arri mit einem kurzen, verächtlichen Blick, stockte aber nicht einmal in der Bewegung, sondern wandte sich langsam und mit eindeutig herausfordernder Miene ganz zu Nor um. »Während wir hier stehen und unsere Zeit verschwenden und die Geduld der Götter vielleicht übermäßig strapazieren, ist ihre Mutter zweifellos schon auf dem Weg zu unseren Feinden, um zusammen mit ihnen unseren Untergang zu planen.«
    Nicht nur Arri war überrascht, als sie den scharfen, eindeutig herausfordernden Ton in Sarns Stimme vernahm und den dazu passenden Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht erblickte. Auch Nor runzelte verwirrt die Stirn, bevor er sich wieder fing und - gefährlich leise - fragte: »Willst du meinen Entschluss in Zweifel ziehen, Sarn? Muss ich dich erinnern, wer ich bin und wer du bist?«
    Sarn schüttelte heftig den Kopf. Er wirkte unruhig, aber nicht ängstlich. »Nein! Ihr seid der Hohepriester und der Herr von Goseg, Nor. Aber Ihr seid auch ein Mensch, und Ihr seid für Eure Güte und Barmherzigkeit überall im Land bekannt.«
    Arri hätte laut aufgelacht, wären ihr Sarns Worte nicht gleichzeitig so völlig aberwitzig vorgekommen, dass sie ihr wortwörtlich die Sprache verschlugen - und hätte sie nicht gespürt, wie die Spannung zwischen den beiden ungleichen Männern plötzlich eine vollkommen andere, gefährlichere Qualität annahm. Dass Sarn Nor so offen widersprach, war an sich schon ungewöhnlich genug - und für den greisen Schamanen sicherlich nicht ganz ohne Gefahr. Aber da war noch mehr. Was sie in Sarns Stimme hörte und auf seinem Gesicht las, das waren nicht einfach nur Trotz oder Ärger darüber, dass Nor sie nicht auf der Stelle hatte hinrichten lassen. Und plötzlich begriff sie, was hier wirklich vor sich ging. Sarn bot Nor nicht nur aus Verärgerung und gekränktem Stolz so offen die Stirn. Was sich da vor ihren Augen anbahnte, war nichts anderes als eine Machtprobe. Aber konnte Sarn tatsächlich so dumm sein, Nor ausgerechnet hier

Weitere Kostenlose Bücher