Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Gedanken darüber gemacht. Vielleicht war es ja kein Zufall, dass eigentlich alle heiligen Männer und Priester, die sie kannte, so böse und verbittert waren. Was, wenn diese berauschenden Mittel, auf Dauer verwendet, eben nicht nur den Geist befreiten, sondern auch den Charakter veränderten? Vielleicht waren die Götter, von denen Sarn und Nor und die anderen Priester so oft sprachen, ja gar nicht so hart und gnadenlos. Vielleicht waren es die Männer, die behaupteten, in ihrem Auftrag zu reden.
    Zeit verging. Eine lange Zeit, in der sich der Gesang und der dumpfe Trommelschlag weiter und weiter steigerten und Nor immer noch völlig reglos dastand und den dunkelgrauen Rauch einatmete, der aus den Opferschalen stieg. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein Ausdruck von Verzückung, vielleicht aber auch von Schmerz, und seine Stirn und die Wangen glänzten vor Schweiß. Auch Sarn stand so da, dass der schwarze Rauch sein Gesicht und seinen Oberkörper fast zur Gänze einhüllte, aber Arri fiel auf, dass er den Kopf leicht zur Seite gedreht hatte und nur flach atmete. Zweifellos erlag er trotzdem der berauschenden Wirkung des Rauches, vielleicht aber nicht im gleichen Ausmaß wie der Hohepriester, und Arri sah sich in ihrer Meinung über den alten Schamanen abermals bestätigt. Sarn hatte erkannt, dass die Sache ganz und gar nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte, und war wohl zu dem durchaus richtigen Schluss gekommen, dass es besser war, einen klaren Kopf zu bewahren. Arri hatte jedoch das sehr sichere Gefühl, dass ihm das nicht allzu viel nutzen würde. Was hier geschah, war nur das Vorspiel zu etwas viel Größerem, das Nor plante.
    Und endlich erwachte auch der Hohepriester aus seiner Erstarrung. Es begann damit, dass er ganz leicht zuerst den Kopf, dann die Schultern und schließlich den gesamten Oberkörper hin und her wiegte, eine sachte Bewegung, fast wie ein Beben am Anfang, die aber rasch deutlicher und schneller wurde. Nors Lippen begannen zu zittern. Am Anfang noch lautlos, dann aber mit schriller, hoher Stimme stieß er Laute hervor, von denen Arri nicht sagen konnte, ob es Worte einer ihr unbekannten fremden Sprache oder einfach nur sinnloses Gestammel waren; in Rhythmus und Intonation jedoch fügten sie sich gänzlich in den Gesang der Priester ein, der mittlerweile hart und befehlend geworden war. Nor stampfte jetzt rhythmisch mit den Beinen auf und bewegte Kopf und Oberkörper immer hektischer hin und her. Auf seinem Gesicht erschien der Ausdruck heiliger Verzückung, und Schweiß bedeckte mittlerweile längst nicht mehr nur seine Stirn, sondern sein gesamtes Gesicht und den Hals und lief in Strömen an seiner nackten Brust hinab.
    Auch Sarn hatte angefangen, sich wie in Trance zu bewegen und schrille, unverständliche Rufe auszustoßen, aber seine Bewegungen wirkten ungelenker und gezwungener, und Arri sah, wie er Nor immer wieder ebenso verwirrte wie misstrauische Blicke zuwarf. Nor mochte sich in Trance befinden, der greise Schamane aber keineswegs, und wenn doch, dann nicht annähernd so tief wie der Herr von Goseg. Was immer Nor plante, dachte sie, Sarn hatte bereits verloren. Und anscheinend wusste er es.
    Nor bewegte sich immer hektischer und schneller, stampfte jetzt nicht mit den Füßen auf, sondern tanzte auf der Stelle, und dann, ganz plötzlich, brachen Gesang und Trommelschlag nach einem letzten, gewaltigen Höhepunkt ab, und etwas wie ein erwartungsvolles Seufzen ging durch die versammelte Menschenmenge.
    Sie wurden nicht enttäuscht. Plötzlich warf Nor mit einem schrillen Schrei den Kopf in den Nacken, schleuderte seinen Stab davon und streifte in derselben Bewegung sowohl seinen Kopfschmuck als auch den federgeschmückten Mantel ab. Darunter war er nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, und Arri konnte zum ersten Mal sehen, wie knochig und ausgezehrt der Hohepriester in Wahrheit war. Seine Haut, die am ganzen Körper vor Schweiß glänzte, als hätte er sich mit Öl eingerieben, und je nachdem, wie das Licht der Sonne darauf fiel, einen schwachen, blaugrünen Schimmer zu haben schien, spannte sich über seine schweren Knochen und war übersät mit Narben, die zum Teil zeremonieller Natur waren, zum allergrößten Teil aber die Spuren darstellten, die ein sehr langes und nicht immer friedliches Leben an ihm hinterlassen hatte.
    Der Bereich rings um seinen Nabel sah aus, als hätte vor langer Zeit jemand (mit Erfolg) versucht, seinen Bauch aufzuschlitzen, und Arri fragte sich

Weitere Kostenlose Bücher