Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
tatsächlich aus den uralten Geschichten über zierliche mädchenhafte Wesen, die einem Krieger vor dem Kampf erschienen, um ihn auf seinen bevorstehenden Tod vorzubereiten …
»Wer sich verläuft, kommt nicht ans Ziel«, sagte das Mädchen plötzlich laut. »Und so wie es aussieht hast du dich gerade verlaufen.«
Seine Stimme klang wie die eines Menschen – und doch auch wieder nicht; sie war ein wenig tiefer und gleichzeitig schriller – vollkommen unmöglich, dass sie zu einem menschlichen Wesen gehörte.
»Ja.« Sein Herz schlug hart und schnell. »Ich habe mich verlaufen. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, wo ich jetzt hin muss. Kannst du mir helfen?«
»Helfen?« Die Todessyre schüttelte den Kopf. »Niemand kann dir helfen, wenn du es nicht selbst kannst.«
Lexz nickte. Das Gleiche hatte ihm der Schamane auch immer wieder gesagt. Aber er hatte ebenso erwähnt, dass einem die Stammväter Halt und Richtung geben konnten, und dass man es nur lernen musste, auf ihre Stimme zu hören.
»Du weißt alles, was du wissen musst«, sagte die Todessyre. »Aber wenn du die falsche Liebe wählst, wirst du sterben. Und mit dir deine Gefährten – und alles, wofür du und die deinen gekämpft haben.«
Lexz hätte gar keine Frage mehr stellen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Das Mädchen wandte sich ab und war schon kurz darauf so vollständig verschwunden, als hätte es der Nebel aufgesogen …
Kapitel 16
Es war nicht Dragosz’ Stimme, und auch nicht die Tarus, sondern eine helle junge Frauenstimme, und sie klang so unpassend fröhlich, dass Arri fast aufgestöhnt hätte.
»Du solltest etwas essen«, sagte die Stimme vom Eingang herüber.
Arri zuckte zusammen. Es schien endlos zu dauern, bis sie aus ihren düsteren Gedanken in die Wirklichkeit zurückfand. Tatsächlich dauerte es aber wohl nur so lange, wie man braucht, um eine Schale auf einem Bord abzusetzen. Sie rutschte ein Stück zur Seite und in eine andere Haltung, als seien ihre Gedanken an Dragosz etwas Verbotenes, bei dem sie sich nicht überraschen lassen durfte. Erst dann sah sie zu der schmalen Öffnung hinüber, durch die man die Hütte betreten konnte.
Es war Isana, natürlich, platschnass vom Regen, aber offensichtlich nicht gewillt, sich durch das Unwetter davon abhalten zu lassen, ihr etwas zu essen zu bringen. Arri atmete erleichtert auf.
»Du hast schon seit Tagen nichts mehr gegessen«, stellte Isana fest, während sie leichtfüßig, aber mit jeder Bewegung Wassertropfen versprühend, in die Hütte huschte. »So kann es wirklich nicht weitergehen!«
Arri nickte erschöpft. Sie wussten beide, dass Arri jede Nahrung verweigert hatte, seitdem man sie hier mit Schimpf und Schande abgeladen hatte. Nach allem, was sie erlebt hatte, war es ihr unmöglich gewesen, auch nur einen einzigen Bissen herunterzubekommen. Schon bei dem Gedanken an den faden Hirsebrei, den man ihr mehrfach hatte aufzwingen wollen, verkrampfte sich alles in ihr.
Das hinderte Isana allerdings nicht daran, neben einem mit Wasser gefüllten Holzbecher auch eine Tonschüssel in die Hütte zu tragen. Arri glaubte schon, den leicht säuerlichen Geruch des immer gleichen Breis wahrzunehmen, den man ihr Tag für Tag anbot, doch dann stieg ihr der durchdringende Duft von Fischsuppe aus der dampfenden Schüssel in die Nase. Rotauge, dachte Arri ohne es zu wollen, da müssen Rotauge und Zander drin sein. Verfeinert mit ein paar Kräutern und lange genug im Sud gekocht, dass die Fischstücke ganz zart werden.
Sie schluckte hart und trocken. Es war noch gar nicht lange her, da hätte sie fast alles für eine solche Delikatesse gegeben. Seit dem Tod ihrer Mutter war der Hunger ihr ständiger Begleiter gewesen, und das hatte sich auch nicht gebessert, als Dragosz sie mit zu seinem Volk genommen hatte. Erst nachdem sie hier an den See gezogen waren, hatte sich ihre Lage etwas geändert – aber sich richtig satt essen zu können, das war nach wie vor ein ungeheuerlicher Luxus.
»Nun komm schon.« Isana stellte Becher und Schüssel zu Arris Füßen ab, trat einen Schritt zurück und schüttelte sich dann wie einer der beiden Dorfhunde, wenn sie sich nach einem heftigen Regenguss in Arris Hütte drängten. »Ich habe die Suppe den langen Weg von der Schmiedehütte bis hierhin getragen.« Von ihrem tanzenden schwarzen Haar flogen unzählige Wassertropfen auf, von denen etliche in der Suppe landeten oder in Arris Gesicht platschten. »Und das mitten durch den heftigsten
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