Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
wieder auf, als ein weiterer Windstoß ihre Haare durcheinanderwirbelte. Sie stolperte in die Richtung, in der sie festen Untergrund vermutete, und kämpfte mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht. So durfte es nicht enden!
Aber so sehr sie auch dagegen ankämpfte, sie wurde doch immer weiter zurückgetrieben, in die Wand hinein, von der aus sie sich an den Abstieg gemacht hatte. Sie musste sich festhalten, sich umdrehen, irgendwo anklammern … Aber der Untergrund war so schlüpfrig, das Moos so durchweicht vom Unwetter, die wenigen Grashalme und Steingewächse so nass und glitschig, dass sie wegrutschte. Sie kippte zur Seite ab, als eine Bö sie traf, und für einen schrecklichen Augenblick glaubte sie zu stürzen … Sie sprang jedoch zurück, kam hart auf, knickte ein, und wie in einem Kampf auf Leben und Tod, bei dem man die Orientierung verliert und sich nicht anders zu helfen weiß, als mit einer unerwarteten Bewegung zu reagieren, riskierte sie einen ungezielten Ausweichschritt … und schwebte scheinbar über dem Nichts.
Sie schrie auf und warf sich so weit zurück, wie sie nur konnte. Wenn jetzt nicht mehr hinter ihr war als ein steil abfallender Abhang, war sie gewiss gleich tot. Aber sie hatte Glück, bekam irgendetwas zu fassen und klammerte sich mit purer Verzweiflung daran fest … drohte weiter abzurutschen … schwebte nach wie vor über dem Abgrund, strampelte mit den Beinen und sprang ab, in die Richtung, in der der dunkle Schatten eines Felsens Rettung versprach.
Hart kam sie auf, und aus ihrem Schreckenslaut wurde ein schmerzerfülltes Keuchen, mit dem die Luft aus ihren geschundenen Lungen entwich, während sie mit der Seite gegen einen moosbedeckten Felsvorsprung prallte. Ihre Finger krallten sich hinein und fanden genug Halt, um sich an dem Überhang ein Stück weit nach oben zu ziehen … dann kam sie aber nicht mehr weiter.
Es verlangte ihr mehr Kraft ab, sich weiterzuziehen, als sie aufbringen konnte. Aber sie durfte jetzt nicht nachlassen. Hatte ihre Mutter vielleicht jemals aufgegeben, wenn es um sie, ihre einzige Tochter, gegangen war? Nein! Wie konnte sie dann auch nur im Entferntesten auf den Gedanken kommen, ihren Sohn im Stich zu lassen.
»Chakara!«, schrie sie, ein Laut, der so tief aus ihrer Seele hervorkam, dass ihr ganzer Körper erbebte. Und plötzlich war es für ihre zitternden Arme überhaupt kein Problem mehr, die Kraft aufzuwenden, um den letzten glitschigen Überhang zu überwinden und sich vollends nach oben zu ziehen.
Ein zittriger Laut entrang sich ihr, als sie auf nacktem Felsen aufkam, aber kein Kampfschrei mehr, sondern ganz im Gegenteil ein Laut tiefster Erschöpfung. Sie wartete erst einmal eine ganze Weile zitternd und keuchend, unfähig mehr zu tun, als in die Hocke zu gehen und sich mit den Händen auf dem Boden abzustützen, der unter ihrem Gewicht zu schwanken schien.
»Danke«, keuchte sie. »Danke, Lea, danke.« Sie tastete über ihre Brust, aber soweit sie feststellen konnte, hatte sie sich wenigstens keine zusätzliche Prellung zugezogen. »Musstet du mir so deutlich zeigen, dass du mit mir unzufrieden bist?«
Ihre Mutter antwortete nicht, natürlich nicht. Wie sollte sie auch? Arri wusste sehr gut, dass es ein verrückter Gedanke – und dass es ihre Mutter gewesen war, die sie hier hochgetrieben hatte. Wie hätte sie das auch anstellen sollen? Sollte sie ihr aus dem Totenreich etwa Sturmdämonen auf den Hals hetzen?
So aberwitzig das auch klang – ganz tief in Arri gab es einen Teil, der genau davon überzeugt war. Lea hatte schon zu ihren Lebzeiten Dinge fertiggebracht, die allen anderen unmöglich erschienen waren. Wie konnte sie also daran glauben, sie werde nach ihrem Tod Ruhe geben?
»Hoffen wir, dass du weißt, warum du das getan hast«, murmelte Arri, unfähig sich aus ihrem düsteren Gedanken zu lösen. »Dann sag mir aber wenigstens, was du von mir willst.«
Auch diesmal antwortete ihre Mutter nicht. Dafür geschah aber etwas anderes: Die Wolkendecke zog sich wieder zu, düsterer, schwerer und dichter als zuvor, zumindest kam es Arri so vor. Und gleichzeitig beruhigte sich der Wind, wurde zu einem zarten Hauch, der nun fast zärtlich über ihr Gesicht strich.
Es war ein so deutliches Zeichen, dass Arris Augen erneut feucht wurden. Sie verstand das alles nicht mehr. Was taten die Götter nur mit ihr? Warum erlegten sie ihr eine Prüfung nach der anderen auf?
Taumelnd kam Arri hoch und atmete tief durch. Die Luft war frisch
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