Die Hintertreppe zum Quantensprung
Gestorben ist sie fast neunzigjährig im britischen Cambridge.
Offen gesagt, gab es für Lise Meitner auch keinen Grund, wieder nach Deutschland zu kommen. Hier hatte sich nahezu jeder, der mit ihr zu tun hatte, blamiert so gut er konnte (von den Verbrechen der Nazis ganz zu schweigen), und von irgendeiner Art von Entschuldigung war bis zum Jahre 1991 nichts zu sehen und zu hören. Erst dann hat man ihr nach vielen mündlichen und schriftlichen Protesten einen Platz im Ehrensaal des Deutschen Museums in München eingeräumt: Als eine Art Alibi-Ehrenfrau prangt nun ihr Konterfei in der Nachbarschaft der Köpfe von Otto Hahn und Max Planck. Abgesehen von dieser reichlich spät erfolgten Geste der Wiedergutmachung stellt der Umgang mit Lise Meitner der deutschen, meist von Männern dominierten Forschungselite ein Armutszeugnis aus, und ein biografisches Lexikon, das 1985 in zweiter Auflage erschienen ist und Große Naturwissenschaftler vorstellt, informiert seine Benutzer sogar über Heinrich den Seefahrer und Marco Polo, aber von Lise Meitner keine Spur. Sie scheint den männlichen Herausgebern unbekannt geblieben oder zumindest keinen Eintrag wert gewesen zu sein.
Man hält es oft schlichtweg nicht für möglich, wie deutsche Ehrenmänner mit einer großen Frau umspringen können: Als Lise Meitner 1907 frisch promoviert in Berlin eintrifft und an der Universität die Vorlesungen von Max Planck hören will, wird sie von diesem gefragt: »Sie haben doch schon den Doktortitel; was wollen Sie denn jetzt noch?« Und als sie mit Otto Hahn zusammenarbeiten will, darf sie das Gebäude auf Anweisung des Direktors nur durch den Hintereingang betreten. Außerdem hat sie ausschließlich Zugang zu einer eher schlichten Holzwerkstatt und darf sich nicht außerhalb dieses Raumes blicken lassen. Wir wollen nicht fragen, was für eine Toilette ihr zur Verfügung stand, dafür aber erwähnen, dass sie zwar nach ihrer Habilitation 1926 die zu den akademischen Pflichten gehörende Antrittsvorlesung hält, aber dabei von der Presse grob verunglimpft wird: Den Vortrag »Über kosmische Physik«, den die Privatdozentin Lise Meitner hält, verwandelt der fantasielose Berichterstatter der Berliner Presse in einen Vortrag »Über kosmetische Physik«, den ein »Fräulein Meitner« hält.
Wer meint, mit dieser Form der Diskriminierung sei nach dem Zweiten Weltkrieg Schluss gewesen, unterschätzt die Borniertheit der deutschen Nobeleliten. (Manchmal ist zu hören, dass Otto Hahn den Nobelpreis, der Lise Meitner zugestanden wäre, bekommen hat – das könnte stimmen.) Denn als sie Anfang der 1950er-Jahre im Kreise von Kollegen über ein ausschließlich physikalisches Thema referiert, stellt man sie als »langjährige Mitarbeiterin« Otto Hahns vor und unterschlägt dabei einfach, dass sie es war, die im Winter 1938/39 als Erste verstanden hat, wie viel Energie freigesetzt wird, wenn es zu einer Kernspaltung des Elements Uran kommt.
Noch bis in die 1980er-Jahre führte das Deutsche Museum in München in seinen Katalogen Lise Meitner als schlichte Assistentin von Hahn auf, obwohl sie seit 1926 eine unabhängige Professorin war und der Akademie Leopoldina in Halle sowie der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen angehörte. Ihr war der Enrico-Fermi-Preis und die Leibniz-Medaille verliehen worden, und im Ausland hatte man ihr zahlreiche Ehrendoktorhüte aufgesetzt und viele weitere Ehrungen zukommen lassen. Eingeweihte wussten immer schon, dass sie die führende geistige Kraft in dem zu Recht so gelobten Team Hahn/Meitner war. Aus diesem Grunde haben auch die Mitarbeiter der beiden in formalen Schreiben oftmals korrigierend eingegriffen: Den Unterschriften »Otto Hahn, Lise Meitner«, die unter amtlichen Bekanntmachungen und Anordnungen zu fi nden waren, haben sie durch eine kleine Schlangenlinie eine neue Bedeutung gegeben, die eher den Tatsachen entsprach: »Otto Hahn, lies Meitner«. Ihr häufig zu hörender Ratschlag, »Hähnchen, lass mich das machen, von Physik verstehst du nichts«, ist jedenfalls niemals ernsthaft auf Widerspruch gestoßen. Sie verstand wirklich etwas von Physik, aber sie war eine Frau und musste sich deshalb dauernd hinten anstellen oder gar verstecken.
Aller Anfang ist schwer
Die 1878 in Wien geborene Lise Meitner kann 1901 in ihrer Heimatstadt nur deshalb mit dem Studium der Physik beginnen, weil die österreichischen Universitäten ihre Tore gerade noch rechtzeitig vor der Jahrhundertwende für Frauen
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