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Die Hintertreppe zum Quantensprung

Die Hintertreppe zum Quantensprung

Titel: Die Hintertreppe zum Quantensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Peter Fischer
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bestand. Bei diesen Elektronen fiel Lise Meitner nun etwas Merkwürdiges auf. Sie konnte nämlich nachweisen, dass diese negativ geladenen Teilchen aus dem Atomkern kamen, also von dort, wo es gar keine Elektronen geben sollte bzw. konnte. Zudem konnten die Elektronen alle möglichen Geschwindigkeiten annehmen, was die Physiker dadurch ausdrückten, dass sie sagten, die Betastrahlen zeigen ein kontinuierliches Spektrum.
    Beide Erkenntnisse waren sensationell, wenn dies auch heute nicht mehr leicht zu sehen ist. Zur Erinnerung: Die Physiker lebten damals in der Annahme, dass die Welt allein aus zwei Bausteinen besteht, dem Proton, das schwer und positiv geladen ist, und dem Elektron, das leicht und negativ geladen ist. Um 1912 hatte Ernest Rutherford bei Streuversuchen herausgefunden, dass Atome aus einem Kern und einer Hülle bestehen, wobei im Atomkern alle Protonen – und damit fast die ganze Masse – vereinigt sind, während die Elektronen dieses Zentrum auf Schalen umrunden. Zwar wurde dem Dänen Niels Bohr, der uns noch beschäftigen wird, sofort klar, dass damit das Ende der Fahnenstange der klassischen Physik erreicht war, weil mit ihr die Stabilität eines solchen kreisenden Systems nicht zu erklären war. Aber die neue Theorie, die an ihre Stelle treten sollte, kannte zunächst natürlich noch niemand. Sie wurde erst um 1925 als revolutionäre »Quantenphysik« der Atome aufgestellt. Es mussten also noch dreizehn Jahre vergehen, in denen weitgehend Verwirrung unter den theoretischen Physikern herrschte. In dieser Zeit galt es, sich an die Experimente zu halten und hier Orientierung zu suchen. Auf diesem Sektor war Lise Meitner wegweisend. Auch wenn ihre zuverlässigen und genauen Messungen eher noch mehr Überraschungen an den Tag brachten, die der klassischen Physik zuletzt das Genick brachen, so gaben ihre Daten und Beobachtungen doch den neuen geistigen Rahmen vor, in dem man Halt fi nden und sich umsehen konnte.
    Meitners Ergebnisse waren tatsächlich die große Herausforderung für die Physiker: Wie kamen die Elektronen, die sie bei Betastrahlern wie Proactinium untersuchte, erstens in den Kern der Atome hinein und zweitens wieder heraus? Dass hierin eine schwerwiegende Besonderheit stecken musste, zeigte vor allem die von Lise Meitner mehrfach bestätigte – wenn auch von Kollegen gerne als Fehlmessung zurückgewiesene – Tatsache, dass die Elektronen der Betastrahler alle möglichen Energien annehmen konnten und damit deutlich von all den scharfen Linien und diskreten Übergängen abwichen, die man sonst von den Atomen her gewohnt war.
    Eben dieses kontinuierliche Spektrum der beim Betazerfall freiwerdenden Elektronen hat Niels Bohr eine Zeit lang auf den kühnen Gedanken gebracht, dass bei diesem Prozess die Erhaltung der Energie aufgeweicht sein und nur statistisch gelten könnte. Gelöst wurde die Frage später durch Wolfgang Pauli, der vorschlug, dass in der Betastrahlung neben den Elektronen noch ein weiteres physikalisches Etwas – das heutige Neutrino – zu finden sei, und dass sich die beiden Zerfallsprodukte die Energie zufällig aufteilten.
Das Neutron
    Der ganze Vorgang des Atomzerfalls konnte erst dann wirklich gut verstanden werden, als zu Beginn der 1930er-Jahre der Brite James Chadwick nachweisen konnte, dass es neben den Elektronen und Protonen tatsächlich noch mindestens einen anderen – und zwar ungeladenen – Baustein der Materie gibt, den man seiner Neutralität wegen Neutron nannte.
    Mit dem Auftauchen des Neutrons beginnt für Lise Meitner – und nicht nur für sie – ein völlig neuer Arbeitsabschnitt. Überall auf der Welt besorgen sich Wissenschaftler Neutronenquellen, um die ungeladenen Partikel auf Atome und deren Kerne zu lenken. Sie unternehmen dies in der Hoffnung, dass es den Neutronen gelingt, bis zu den Atomkernen vorzudringen und sich in ihnen einzunisten. Dahinter steckt bis zu einem gewissen Grad der alte Traum der Alchemisten, unedle Stoffe in edle umzuwandeln; dahinter steckt auf jeden Fall aber auch die Neugierde, verstehen zu wollen, wie die Stabilität eines Atomkerns zustande kommt. Was hält die positiv geladenen Protonen dort wie zusammen? Welche Kraft agiert hier? Und können die Neutronen etwas von ihr spüren und dem Experimentator vermelden?
    Aufschluss auf all diese Fragen sollte das Bombardement der Atome mit ungeladenen Teilchen bringen. Wenn diese von einem Atomkern eingefangen würden, konnte dabei ein neues, künstliches Element

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