Die Hintertreppe zum Quantensprung
geöffnet haben. Sie freut sich damals darauf, die Vorlesungen des berühmten Ludwig Boltzmann zu hören, und durch seine meisterhafte Beherrschung der Wärmelehre angestachelt, steuert sie zielstrebig auf das Thema ihrer Doktorarbeit – Wärmeleitung in homogenen Körpern – zu, die sie 1906 abschließt. Sie ist jetzt 28 Jahre alt und hat bereits einige Umwege in einer von Männern beherrschten Welt in Kauf nehmen müssen. Denn obwohl ihr Vater, ein Wiener Rechtsanwalt mit jüdischen Vorfahren, ihre sich früh zeigende Neigung zur Physik förderte, hatte er verlangt, dass sie erst einen »anständigen« Beruf erlernte. Zu gering schätzte er die Chancen seiner Tochter ein, als Wissenschaftlerin je eine Stelle zu finden. Und Lise tat ihm den Gefallen. Bevor sie sich an der Universität Wien für das Studium der Physik einschrieb, absolvierte sie die notwendigen Prüfungen, um Lehrerin für Französisch werden zu können.
Doch zurück zur Physik. An der naturwissenschaftlichen Fakultät fühlt sich Lise Meitner durch und durch als »Schülerin von Boltzmann«, wie sie selbst 1958 geschrieben hat. An ihrem ersten Lehrer fasziniert sie besonders, wie sehr er »erfüllt war von der Begierde für die Wunderbarkeit der Naturgesetze und ihrer Erfassbarkeit durch das menschliche Denkvermögen«. Von Boltzmanns Schwung regelrecht »mitgerissen«, ist sie zunächst enttäuscht, als sie die unpersönlichen und eher nüchternen Vorlesungen besucht, die Max Planck in Berlin über theoretische Physik hält. Lise Meitner studiert bei ihm seit dem Herbst 1907. Anbei bemerkt, war es damals Frauen nicht ohne Weiteres gestattet, auf preußischen Hochschulen ein Studium aufzunehmen. So konnte Lise Meitner auch nicht einfach in den Hörsaal hineinspazieren – dazu war vielmehr eine persönliche Erlaubnis des Dozenten erforderlich. Und obwohl, wie bereits gesagt, das erste Treffen mit Planck eher unerfreulich verlaufen war, hat sie letztlich seine Zustimmung erhalten und im Laufe ihres Lebens immer mehr Respekt vor seiner Persönlichkeit bekommen. Max Planck sei »als Mensch so wunderbar gewesen«, hat sie gegen Ende ihres Lebens einmal erzählt, »dass, wenn er in ein Zimmer kam, die Luft im Zimmer besser wurde.«
Planck selbst hat bald begriffen, was für ein Talent Lise Meitner besaß, und sie folgerichtig zu seiner Assistentin gemacht. Diese Position behielt sie bis in den Ersten Weltkrieg hinein. 1915 meldete sie sich freiwillig als Röntgenschwester, um in einem Krankenlazarett an der österreichischen Front zu arbeiten. Sie hatte sich eigens durch medizinische Kurse auf diese Aufgabe vorbereitet.
Der Erste Weltkrieg
Aus Sicht der Wissenschaft hat der Erste Weltkrieg insofern eine entscheidende Bedeutung, als dass hier zum ersten Mal mit direkter Hilfe der Chemiker und Physiker gekämpft wurde. Bekannt geworden ist vor allem der Einsatz chemischer Waffen, den alle Kriegsparteien mit Macht erprobt haben – nicht nur die Deutschen. Deren Anstrengungen waren unter der Führung von Fritz Haber nur die größten »Erfolge« beschieden, wenn man die tatsächlich erfolgte Tötung von Tausenden von Menschen so nennen darf. Zwar hat Lise Meitner nichts mit diesem gefährlichen und inhumanen Aspekt der Forschung zu tun, aber der Gaskrieg soll hier deshalb erwähnt werden, um den Kritikern der Wissenschaft an Meitners Beispiel zu zeigen, dass man es sich nicht zu einfach machen sollte, wenn man bestimmte Handlungen von Personen moralisch be- oder verurteilen möchte. Immer gilt es, die Zeitumstände zu berücksichtigen. Lise Meitner hat nämlich trotz ihres grundsätzlichen Abscheus vor kriegerischen Auseinandersetzungen sehr wohl verstanden, warum sich einige ihrer Kollegen um den Einsatz chemischer Waffen bemühten: Denn »vor allem ist jedes Mittel barmherzig, das diesen schrecklichen Krieg abzukürzen hilft«, schreibt sie im März 1915. Und wer will sie für diesen Gedanken wirklich tadeln, der dreißig Jahre später seitens der Amerikaner erneut auftauchte, nachdem die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen worden war?
Radiochemie
Lise Meitner wollte mit dem oben zitierten Schreiben ihren Freund und Kollegen Otto Hahn trösten, der damals im Fronteinsatz stand. Ihm verdankte sie viel. Denn Hahn hatte ihr acht Jahre zuvor die große Chance gegeben, selbstständig experimentell zu arbeiten. Wie kam es dazu?
Otto Hahn hatte sich im Frühjahr 1907 habilitiert und dabei für die Wissenschaft ein neues Gebiet erschlossen, das er
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