Die Hintertreppe zum Quantensprung
Radiochemie nannte. Es ging darum, die radioaktiven Substanzen, mit denen zum Beispiel das Ehepaar Marie und Pierre Curie in Paris beschäftigt war, chemisch sorgfältig zu charakterisieren. Hahn hatte verstanden, dass es – modern ausgedrückt – auf Teamwork ankam, und so suchte er als Chemiker einen Physiker, der ihm zur Hand gehen konnte. Da er gerade aus den USA zurückgekommen war, wo er mit gleichaltrigen jungen Forscherinnen zusammengearbeitet hatte, und er zudem »eine ausgesprochene Schwäche für das weibliche Geschlecht« zeigte, wie es ein Biograf formuliert hat, konnte es auch eine Physikerin sein, und so bekam Lise Meitner ihre Chance in der Wissenschaft.
Wenngleich Meitner nur in einer Holzwerkstatt experimentieren durfte, erlebte sie nun in Berlin-Dahlem ihre »unbeschwertesten Arbeitsjahre«: »Die Radioaktivität und Atomphysik waren damals in einer unglaublich raschen Fortentwicklung; fast jeder Monat brachte ein wunderbares, überraschendes, neues Ergebnis in einem der auf diesem Gebiet arbeitenden Laboratorien. Wenn unsere eigene Arbeit gut ging, sangen wir zweistimmig, meistens Brahmslieder, wobei ich nur summen konnte, während Hahn eine sehr gute Singstimme hatte. Mit den jungen Kollegen am Physikalischen Institut hatten wir menschlich und wissenschaftlich ein gutes Verhältnis. Sie kamen uns öfters besuchen, und es konnte passieren, dass sie durch das Fenster der Holzwerkstatt hereinstiegen, statt den üblichen Weg zu nehmen. Kurz, wir waren jung, vergnügt und sorglos, vielleicht politisch zu sorglos.«
Bald waren die unbeschwerten Tage in der Werkstatt gezählt. Die 1911 gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – die heutige Max-Planck-Gesellschaft – richtete in kurzer Zeit in Dahlem ein stattliches Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie ein, in welches das Gespann Hahn/Meitner 1913 umzog. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs und ihrer Arbeit in österreichischen Frontspitälern übernahm 1917 Lise Meitner dort ihre eigene Abteilung, die »physikalisch-radioaktive«, und durfte fortan offi ziell den Professorentitel führen.
Es ist Lise Meitner keineswegs leichtgefallen, 1917 nach Berlin zurückzukehren. Doch ein Brief von Hahn, der in höchster Aufregung war, stimmte sie um. Er schrieb, »dass unsere Abteilung für militärische Zwecke verwendet würde«, falls sie sich nicht dort blicken ließ, und zwar für längere Zeit. Lise Meitner reagierte. Denn »da unsere Untersuchungen über das [chemische Element] Proaktinium als Muttersubstanz des Aktiniums sehr genau reproduzierbare Messungen mit festgeschraubten Apparaten usw. erforderten, hätte die Wegnahme unserer Abteilung unsere jahrelange Arbeit zunichte gemacht. Daher kam ich im September 1917 für dauernd nach Dahlem zurück, um die Arbeit zu Ende zu führen« – etwas, das sie ohne die Hilfe von Planck nicht geschafft hätte, der ihr die militärischen Herren vom Hals halten konnte.
Betastrahlen
Proactinium und Actinium – damit sind konkrete Hinweise auf das wissenschaftliche Thema gefallen, um das sich das Hahn-Meitner-Team gekümmert hat. 1908 konnte das Duo seine erste gemeinsame Arbeit publizieren, die von dem chemischen Element Actinium handelte, das radioaktiv und etwas schwerer war als das berühmte Radium des französischen Ehepaars Curie. Damals gab es schon ein Periodensystem der Elemente, in das die erkannten Atomsorten mit einer Ordnungszahl eingetragen wurden. Diese Ordnungszahl reihte die Atomsorten der Größe nach auf, wobei die Zählung beim Wasserstoff mit 1 begann und vorläufi g beim Radium bei 89 endete. Was aber dieser aufsteigende Zahlenwert physikalisch bedeutete, darauf konnte sich um 1908 niemand einen so rechten Reim machen. Lise Meitner wusste nur, dass es eine »Muttersubstanz« für das Actinium gab, womit ein Element gemeint war, das selbst radioaktiv strahlte, und zwar so, dass dabei Actinium herauskam. Gemeinsam mit Hahn machte sie sich auf die Suche nach diesem Element, das sie Proactinium nannten und schließlich 1917 fanden. Sie konnten ihm die Ordnungszahl 91 zuweisen, was eins kleiner ist als der entsprechende Wert für das Uran, das als Element 92 berühmt werden sollte, nachdem mit ihm Atombomben konstruiert werden konnten.
Bei ihren Untersuchungen konzentrierte sich Lise Meitner auf Elemente, die als Betastrahler bekannt waren, das heißt auf Elemente, die von Rutherford als Betastrahlen bezeichnete Energieform aussendeten, von der man bald wusste, dass sie aus Elektronen
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