Die Hintertreppe zum Quantensprung
Herrlichkeit des Sternenhimmels war irgendwie Gott gegenwärtig. Zugleich aber wusste ich, dass die Sterne Gaskugeln sind, aus Atomen bestehend, die den Gesetzen der Physik genügten. Die Spannung zwischen diesen beiden Wahrheiten kann nicht unauflöslich sein. Wie aber kann man sie lösen? Wäre es möglich, auch in den Gesetzen der Physik einen Abglanz Gottes zu fi nden?«
Der Physiker
Mit diesen Worten weist der 64-jährige Carl Friedrich von Weizsäcker im Jahre 1976 – also 51 Jahre nach dem geschilderten Festtag – in seinem Text Selbstdarstellung auf die beiden Pole der menschlichen Erfahrung hin, zwischen denen er sich im Denken orientiert: das religiöse Erleben, das dem Menschen etwas bedeutet, und das naturwissenschaftliche Fragen, das dem Menschen etwas mitteilt und über deren Beantwortung man sich einigen kann. Beide sind dabei mit einem ungeheuren Staunen verbunden. Die Spannung zwischen diesen beiden Eckpunkten hatte in der Mitte der 1920er-Jahre gerade eine völlig neue Dimension bekommen und ist vor allem mit dem Namen des Physikers Werner Heisenberg verbunden, bei dem von Weizsäcker 1933 an der Universität Leipzig promovieren konnte. Heisenberg hatte 1927 als gerade einmal 26-Jähriger die Eigenschaften der atomaren Wirklichkeit erkannt, die heute durch das Wort »Unbestimmtheit« zwar populär geworden, aber geheimnisvoll geblieben sind. Der noch nicht 15-jährige Teenager von Weizsäcker lebte damals in Berlin, als Heisenberg hier Station machte und dem Knaben Carl Friedrich (wahrscheinlich in kurzen Hosen) auf einer Taxifahrt die verrückt klingende Vermutung mitteilte: »Ich glaub’, ich hab’ das Kausalgesetz widerlegt.« Von Weizsäcker berichtet von dieser Begegnung in seinem Buch Wahrnehmung der Neuzeit und verrät auch, welche maßgebliche Empfehlung ihm Heisenberg mit auf den Lebensweg gegeben hat: »Physik ist ein ehrliches Handwerk; erst wenn du das gelernt hast, darfst du darüber philosophieren.«
Von Weizsäcker hat sich daran gehalten und nicht nur ordentlich zur Physik beigetragen, sondern sogar seinen Namen in ihren Annalen verewigen können, was im Anblick der Ungnade seiner späten Geburt erstaunlich ist. Mit dem Ausdruck »späte Geburt« meinte man damals, dass alle diejenigen Physiker, die ein paar Jahre oder gar ein ganzes Jahrzehnt nach Wolfgang Pauli oder Werner Heisenberg zur Welt gekommen sind, feststellen mussten, dass es am Ende ihrer Studien schon eine neue Physik gab, deren grundlegende Gesetze alle schon entdeckt oder erfunden worden waren – eben von den anderen, die das Glück hatten, etwas früher auf die Welt gekommen zu sein. Trotzdem ist dem jungen von Weizsäcker noch ein nobelpreisverdächtiger Beitrag zur Physik gelungen, und zwar zusammen mit dem Physiker Hans Bethe (der die begehrte Auszeichnung aus Stockholm später für andere Arbeiten bekommen hat). Die Fachwelt spricht heute vom Bethe-Weizsäcker-Zyklus und meint damit die von den beiden erkannte kreisförmig verlaufende Reaktion, in der die drei Elemente Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff (und ihre Isotope) ihre Bauteile immer wieder umlagern und sich so gegenseitig hervorbringen; dabei produzieren sie energiereiche Strahlung und geben zugleich auch Wasserstoffen die Gelegenheit, zum Element Helium zu fusionieren. Der Bethe-Weizsäcker-Zyklus erklärt auf diese Weise, woher zum Beispiel die Sonne ihre Energie bezieht – nämlich aus einer kontinuierlich betriebenen und schön rund laufenden Kernfusion.
Es gibt übrigens eine Anekdote, die von dem verliebten Carl Friedrich erzählt, der mit einem Mädchen an einem schönen Sommertag auf der Wiese sitzt. »Scheint die Sonne nicht herrlich?«, schwärmt sein Schatz. »Ja«, soll er schmunzelnd und stolz geantwortet haben, »und ich bin der Einzige, der weiß, wie sie das macht.«
Der Philosoph
Mitte der 1930er-Jahre arbeitet von Weizsäcker, nachdem er sich in Berlin als Physiker habilitiert hat, als Assistent bei Lise Meitner, die Uran mit Neutronen beschießt, ohne zunächst zu bemerken, was passiert, wenn Kerne dabei getroffen werden. 1937, noch vor dem Ereignis der Entdeckung der Kernspaltung, legt von Weizsäcker sein Buch Die Atomkerne vor. Dabei handelt es sich um sein erstes und letztes Buch über die Physik selbst, denn immer mehr bedrängen und beschäftigen ihn andere Fragen – politische und philosophische.
In den kommenden Jahren denkt er intensiv über die Deutung bzw. Bedeutung der Quantenmechanik nach, und mitten im
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