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Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Titel: Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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geschwollen. Dumm, dass sie ausgerechnet jetzt krank wurde. Aber egal.
    Sie seufzte und legte ihre Wange an das blanke Schädeldach.
    »Begreifst du jetzt, warum wir warten mussten«, flüsterte sie, »um ein Haar hättest du alles verdorben.« Sie strich über die blutige Maske, unter der seine Gesichtszüge verschwunden waren.
    Als er sie letzten Samstag angefasst und sie ihm gesagt hatte, er müsse noch viel mehr als sein Jackett ausziehen, um ihr
nahe kommen zu können, hatte er gelacht und sein Hemd aufgeknöpft.
    Sie küsste den nackten Knochen. Der Druck in ihrem Kopf war verschwunden. Sie verspürte eine Nähe, wie sie sie noch nie in der Gegenwart eines anderen Körpers verspürt hatte. Sie fühlte sich leicht und schwebend wie ein Luftballon. Der Unterschied zwischen »im Kopf« und »draußen« war aufgehoben. So wie sie die Innenseite seiner Stirnhaut zur Außenhülle gemacht hatte, würden alle ihre Bilder Wirklichkeit werden. Sie war eine Göttin. Und Göttinnen fantasierten nicht, Göttinnen arbeiteten in Fleisch und Blut.
    Ein neuerlicher Anfall ihres Unterleibskatarrhs warf sie auf die Laken zurück. Sie wusste nicht, war es derselbe Dämon, der zwischen ihren Beinen zupfte, oder war es ein anderer, jedenfalls hörte sie klar und deutlich sagen:
    Spalte den Schädel und schlürfe das Hirn!
    Sie vergaß das Zwischenbeingezupfe und setzte sich kerzengerade. Schädelspalten ja. Hirnschlürfen nein. Sie musste sich in Acht nehmen. Schon viele hatten göttlich begonnen und als Hirnschlürfer geendet. Nicht nur ihr Held Tydeus, der sich damals bei der Schlacht vor Theben fast die Unsterblichkeit erkämpft hatte und dann verreckt war, weil er Menalippos ins Hirn gebissen hatte. Auch Ugolino hatte es erwischt. Erst großer Graf von Pisa und dann seinen eigenen Kindern die Hirnschalen leergefressen.
    Sie griff nach der Knochensäge. Der Kopf war ihrem Schutz unterstellt, sie war verantwortlich, dass seinem Hirn nichts zustieß. Also Vorsicht, Vorsicht. Zielsicher setzte sie die Säge zum Tonsurschnitt an. Bloß nicht zu tief gesägt. Hinterhauptsbein, Scheitelbein, Stirnbein und auf der linken Seite lateinisch zurück. Os frontale, Os parietale, und als sich der Kreis hinten beim Os occipitale geschlossen hatte, wechselte sie zu Hammer und Meißel.

    Du Sisera. Ich Jaël.
    Mit federnden Schlägen trieb sie den rostfreien Stahl in seine Schuppennaht hinein.
    Gepriesen sei sie unter den Frauen! Sie griff mit ihrer Hand den Pflock und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer und zerschlug Siseras Haupt und zermalmte und durchbohrte seine Schläfe.
    Atemlos hielt sie inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was redete sie da? Nicht zerschlagen und zermalmen und durchbohren. Schützen, bewahren, lieben. Nichts als Zärtlichkeit war sie in dieser Nacht.
    Sie legte den Hammer aus der Hand, um sich zu beruhigen.
    Stirne blutet sanft und dunkel,
Sonnenblume welkt am Zaun,
Schwermut blaut im Schoß der Fraun;
Gottes Wort im Sterngefunkel!
    Es ging ihr wieder besser. Noch ein paar sanfte Schläge, dann hatte sie es geschafft, sein Schädeldach gab endlich nach. Es knackte spröde, und was sie sah, raubte ihr den Atem.
    Es war das Schönste, das sie auf der ganzen Welt jemals gesehen hatte.
    Sie stöhnte. Wieder hatte ihr der Dämon zwischen die Beine gegriffen, und diesmal hatte er nicht einfach nur gezupft, sondern war tief in ihren Unterleib hineingekrochen und zog heftig. Sie fasste sich zwischen die Beine. Nun gut, wenn der Dämon Tauziehen spielen wollte, dann spielte sie eben mit.
    Ihre Augen wurden feucht, als sie mit der freien Hand das Hirn berührte. Es war so schön, so wunderschön, wie es dort in seiner Schale lag, von Spinnwebenhaut und weicher Hirnhaut - »pia mater!« - liebevoll bedeckt.

    Gehirne: kleine, runde; matt und weiß.
    Sonne, rosenschössig, und die Haine blau durchrauscht.
    Vor Glück kullerten ihr ein paar Tränen übers Gesicht. Sie war im Märchen. Sie war das Mädchen mit den Zaubernüssen. Sie war das Mädchen, dem die Götter die vierte Nuss, die Nuss aus ihrem heiligen Garten selbst, geschenkt hatten.
    Der Dämon knurrte böse, als sie ihn dort unten sich selbst überließ, aber sie brauchte jetzt beide Hände. Vorsichtig griff sie zwischen Hirn und Knochen in die Schädelbasis hinein, ruckelte ein wenig an Nervensträngen und Blutgefäßen und hob das Hirn heraus. Zitternd schmiegte es sich an ihre Handflächen.
    Sehen Sie, in diesen meinen Händen hielt ich sie, hundert

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