Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
hinaufgeeilt war, rannte sie in die Küche zurück.
Kurz vor dem Kühlschrank fiel sie in einen gemesseneren Schritt. In ihrem Kopf begann es zu surren. Ja. Ja. Ja.
Ich dürste nach deiner Schönheit! Ich hungre nach deinem Leib; nicht Wein noch Apfel können mein Verlangen stillen. Was soll ich jetzt tun?
Es war Zeit. Sie konnte nicht länger warten. Vor dem Kühlschrank kniete sie nieder.
Nicht die Fluten noch die großen Wasser können dies brünstige Begehren löschen. Ich war eine Göttin, und
du verachtetest mich, eine Jungfrau, und du nahmst mir meine Keuschheit. Ich war rein und züchtig, und du hast Feuer in meine Adern gegossen.
Langsam streckten sich ihre Hände nach der großen weißen Plastiktüte auf dem untersten Rost. Behutsam zog sie den runden Gegenstand an sich und streifte die Hülle von ihm ab. Sie lachte, als zwei Augen über den Tütenrand linsten.
»Hallo«, sagte sie leise. Sie packte den Kopf am dünnen Haarschopf und zog die restliche Tüte mit einem Ruck weg. Ihr Lachen plätscherte in hellen Kindersopran hinüber:
Oh Haupt! Sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier.
Jetzt aber höchst schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir.
Sie küsste die Stirn, dann nahm sie den Kopf und ging zu den fünf weißen Eimern, die am Ende der Küche standen. Glas. Metall. Papier. Kunststoff. Restmüll. Sie trat auf das Pedal des vierten Eimers, knüllte die Plastiktüte zusammen und warf sie hinein. Sorgfältig ließ sie den Deckel zurückklappen.
Erika Konrad erhob sich von ihrem stinkenden Zellenbett. Eine magere Frau, deren Kleid die Knochen sinnlos teuer umflatterte, stand in der Tür und winkte sie zu sich. Es war das Versagen, gekommen, sie endgültig zu holen. Erika Konrad verzog den Mund. Sie hätte es ahnen können. Das Versagen war eine Frau.
Sie drehte der Erscheinung den Rücken zu und hängte sich mit ganzer Kraft an das Bettlaken, das sie vor wenigen Minuten am Fenstergitter festgeknotet hatte. Mühsam richtete sie sich wieder auf. Das Laken hielt, doch das Fenster war niedrig. In Büchern hatte sie viel gelesen über Menschen, die versucht hatten, sich an niedrigen Fensterkreuzen
zu erhängen. Wie unendlich qualvoll diese Art des Sterbenwollens war. Sie stellte sich an die Wand und zwang ihre zitternden Beine, sie noch einen letzten Moment zu tragen. Mit der Würde einer Königin legte sie die beiden freien Zipfel des Lakens um ihren Hals und verknotete sie unter ihrem Kinn.
Sie blickte starr auf die grüne Stahltür. Die Erscheinung hatte zu wabern begonnen wie ein Flaschengeist.
»Isabelle«, sagte Erika Konrad, und ihre Stimme war schon tot, »vergib mir. Ich kann dir nicht mehr helfen.«
Sie gab ihren zitternden Beinen nach, und alles, was sie jemals in Büchern gelesen hatte, zerstob zu Hohn und Spott. Der harte Knoten traf ihren Kehlkopf wie eine Faust. Sie wollte würgen, husten, doch ihre Kehle war so zugeschnürt, dass nicht einmal mehr ein Schluchzen hindurchpasste. Zwei Minuten, dachte sie, zwei Minuten.
Tränen schossen in ihre Augen. Ihre Hände krampften sich in das Lieblingskleid, das sie seit zwei Tagen und einer Nacht trug. Sie hatte Angst, ihre Hände würden sie verraten, sie betete, ihre Hände mögen abfallen, bevor sie an den Knoten griffen, um ihn zu lockern. Ihre Lunge begann zu brennen. Ihr Herz loderte auf. Das Blut in ihrem Hals drückte, als wolle es herausplatzen. Ihre Hände zuckten. Alle Reste an Lebendigkeit, die ihr in dreiundfünfzig Jahren Leben geblieben waren, versammelten sich unter dem Knoten und brüllten.
Die grüne Stahltür verschwand hinter dem Tränenschleier, der sich immer dichter über ihre Augen zog. Mit aller Kraft, die sie jemals besessen hatte, buhlte Erika Konrad um den Tod. Sie ließ ihre Beine sinnlos nach vorn gestreckt, die Schenkel leicht geöffnet, die Arme kraftlos zuckend. Sie war schön. Sie war nicht jung, aber sie war noch schön. Komm, lieber Tod, und mache, flehte eine Stimme, von der sie selbst nicht mehr wusste, woher sie kam.
Und in der Sekunde, in der sie endlich das Bewusstsein
verlor, durchzuckte Erika Konrad ein fantastischer Stolz. Sie hatte gesiegt. Sie war keine Versagerin. Einmal war sie stark geblieben bis zum Schluss.
»Wen suchen Sie?« Die Frau war jung, höchstens fünfundzwanzig. Ihr blasses Gesicht verschwand hinter einem Wust grüner Rastalocken.
»Frau Isabelle Konrad.« Der kleinere der beiden Uniformbeamten hatte seinen Fuß in die Tür gestellt.
Das Mädchen zupfte an
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