Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
allein im Mondlicht tanzten. Oben, auf der höchsten Stufe der Freitreppe, die zum Altarhof hinaufführte, brannten zwei Dreifüße. Ihre flackernden Schatten waren es, die die Schlacht erneut entfacht hatten. Obwohl. Gustav Eisenrath blinzelte.
Vielleicht war es auch die Göttin, die zwischen den Säulen hindurch aus dem Altarhof geschritten kam.
»So. Der Bulle wollte also erst ein Foto von deinem Vater, und dann hast du gesehen, wie er in euren alten Ferienalben rumgewühlt hat. Und dann bist du getürmt.«
Kyra hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt, die Grüne hockte am Boden. Sie hatte die Beine hochgezogen und das Kinn zwischen die Knie geklemmt. Laubfrosch auf halbem Weg zum Bernhardiner.
»Fändest dus klasse, wenn so n Bulle in deinem Family-Kram rumschnüffelt?« Isabelle trank Bier. Stülpte die Schnute um den Flaschenhals. »Da sind so n paar Aufnahmen dabei, die mein Alter von mir gemacht hat - da hatt ich einfach keinen Bock, mit dem Bullen drüber zu diskutieren.«
Kyra nahm die Beine vom Sofa und beugte sich vor. »Mädchen, hör mal zu, ich lass mich nich länger verarschen. Red endlich Klartext.«
»Wo du grad verarschen sagst, da fällt mir ein: Meine Exmitwohni hat mir der Tage so ne merkwürdige Geschichte erzählt. Von wegen, dass da ne Frau bei ihr war, die gemeint hat, sie hätte mit mir in der Hafenstraße gelebt. Und die versucht hat, sie auszuquetschen über mich.« Die Grüne stützte beide Arme nach hinten und grinste Kyra breit an.
»Der Bulle hat also Fotos von dir gefunden, die dein Alter gemacht hat.«
»Sag mal, bist du eigentlich so stinkig, weil ich dir die Nacht mit dem Kerl da versaut hab?« Die Grüne kitzelte den Flaschenhals.
»Und was sieht man auf diesen Fotos?«
»Glaub mir, es ist echt nicht schad drum. Die Nacht mit dem wär eh Scheiße geworden.«
Kyra stellte ihr Bier weg. »Soll ich dir was sagen? Ich glaub dir kein Wort von der Komödie, die du mir damals erzählt hast, von wegen, dass deine Mutter sich das alles nur eingebildet hat mit deinem Vater und dir. Gibs zu. Dein Vater hat dich gebumst.«
»Hast dus schon mal mit ner Frau gemacht?« Die Grüne schaute Kyra spöttisch an.
»Wie alt bist du? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig?« Kyra lachte gemein. »Das kleine Mädchen ist groß geworden. Groß genug, um sich von Papi keine Angst mehr einjagen zu lassen. Groß genug, um sich endlich für all das zu rächen, was er ihm angetan hat.«
Isabelle Konrad stand langsam auf. »Gibs zu, das mit dem Kerl ist alles nur Theater. Du stehst eigentlich auf Frauen?«
»Hast du deinen Papi aus Moskau angerufen und gesagt: › Hi Daddy, hier ist dein Kleines. Sag mir doch Bescheid, wenn Mami mal wieder n Wochenende weg ist. Dann komm ich nach Berlin, und wir feiern so richtig schön Versöhnung. Nur wir zwei allein. Ja? ‹ Wars so?«
Isabelle Konrad blieb kurz vor Kyra stehen. Blickte sie an. Und sagte nichts.
»Und dann, dann hast du mit deinem Papi auf dem Sofa gesessen, und er hat sich gefreut, wie groß seine Kleine geworden ist. Und wer weiß, vielleicht hattest du ja wirklich vor, dich mit ihm zu versöhnen, aber dann, nach der ersten Flasche, hat er wieder angefangen, an dir rumzufummeln, und da ist die ganze alte Scheiße hochgekommen, und du -«
Weiter kam Kyra nicht. Isabelle Konrad hatte sich auf sie gestürzt.
Er rieb sich die Augen. Mühsam, als habe sein Hirn plötzlich mehrere Windungen zu viel, versuchte er sich klarzumachen, dass die Figur da oben zwar weiß wie Marmor war und auch ein weißes, ärmelloses Gewand trug, aber dennoch keine der Figuren aus dem Fries sein konnte. Feuerschein hin oder her, Friesfiguren verließen nicht mitten in der Nacht ihre Wand, um auf Altartreppen zu tanzen.
»Hallo, sind Sie das?«
Sie antwortete nicht. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es dieselbe Frau war, die ihn heute Nachmittag angesprochen hatte. Er hätte ihr Gesicht nicht beschreiben können.
Mit ruhigem Lächeln machte sie einige Tanzschritte die Treppenstufen hinab, hob einen perfekten weißen Arm, fasste sich an die linke Schulter und löste einen Teil ihres Gewands.
»Das - das mit dem Faden war eine gute Idee«, stammelte er, »ich habe den Weg auf Anhieb gefunden.«
Und wenn sie nun doch eine Göttin war? Keine zum Leben erwachte Skulptur, sondern eine richtige Göttin? Prinzipiell war er mystischen Dingen gegenüber nicht abgeneigt, er hielt es für möglich, dass es Götter gab und dass sie sich ab und zu einem Menschen
Weitere Kostenlose Bücher