Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Titel: Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
Vom Netzwerk:
wie sie sagte. ›Ich weiß nicht, was die Leute wollen‹ hat sie immer gesagt, ›das Leben ist nur ein höchst unwahrscheinlicher Sonderfall, der Normalzustand ist der Tod.‹« Kyra unterbrach ihre kleine Glasmusik und trank einen Schluck. »Sie war aus der DDR. Und ist dort abgehauen. Gleich nach dem Abi, als klar war, dass sie keinen Studienplatz für Medizin
bekommen würde.« Sie stellte das Glas wieder hin. Der Wodka begann zu wirken. Ihre Zunge wurde pelzig. »Aber was langweile ich Sie mit diesem alten Scheiß.«
    »Sie langweilen mich gar nicht. Erzählen Sie weiter.«
    Kyra blickte die Kleine lange an. Irgendetwas hatte dieses Mädchen an sich. Nichts Hübsches. Auch nichts im klassischen Sinn Schönes. Sie war makellos. Unverletzt.
    »Meine Mutter hat keinem was gesagt, als sie abgehauen ist, nicht mal ihrem geliebten Vater. Der war Tierarzt. Bei dem hat sie schon mit fünf die toten Hunde und Kälber aufschneiden dürfen.« Sie lachte. »Sie hat einfach das Westgeld aus dem Familienversteck genommen, es in einen Pariser gerollt, sich in den Arsch geschoben und ist heimlich los nach Ost-Berlin. Von da nach West-Berlin. Die Mauer gabs ja damals noch nicht. Und dann in die Bundesrepublik rüber. Marburg. Düsseldorf. Sie hat ihr Studium in kürzester Zeit durchgezogen. Mit fünfunddreißig war sie Pathologin. - Mich hat sie zur Welt gebracht, kurz nachdem sie ihre erste Professur hatte.« Kyra leckte einen letzten Tropfen aus dem Glas. »Meine Mutter war eine Heldin der Planung.«
    »Und Sie wissen wirklich nicht, wer Ihr Vater ist?« Die Kleine konnte es einfach nicht fassen.
    Kyra legte die Hände in den Nacken, schloss die Augen und lächelte. Wodka. Wodka- Daddy . »Es gab Gerüchte. Dass es ein Neurochirurg aus München war. Ich hab mich nie weiter darum gekümmert.«
    »Sie müssen Ihre Mutter sehr geliebt haben«, sagte Nike langsam. Es klang wie eine Erkenntnis, die ihr nicht besonders einleuchtete, aber logisch folgte.
    »Geliebt? Ich weiß nicht. Ich habe sie bewundert. Für ihre Stärke.«
    Nike nippte an ihrem Mineralwasser. »Wieso sprechen Sie die ganze Zeit von Ihrer Mutter in der Vergangenheit? Lebt sie nicht mehr?«
    Kyra hatte gerade zum Tresen winken wollen. Mitten in
der Bewegung hielt sie inne. Sie drehte sich zum Tisch zurück. Und schaute die Kleine eindringlich an. »Nein. Sie lebt nicht mehr.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich war dabei. Meine Mutter hat einen jungen Mann obduziert, der an einer unbekannten Virusinfektion gestorben war. Und sie ist mit dem Skalpell abgerutscht. Der falsche Schnitt an der falschen Leiche.« Kyra schluckte. »Es war Anfang der Achtziger. Wo die gerade erst begonnen haben zu entdecken, dass es so was wie AIDS überhaupt gibt.«
    »Dann müssen Sie ja richtig früh allein gewesen sein?«
    Kyra lächelte schwach. Sie hatte plötzlich Kopfschmerzen. Warum erzählte sie der Kleinen das alles? Noch nie hatte sie mit jemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Franz. »Sie ist kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag gestorben. Tante BRD hat die Vormundschaft für mich übernommen, mir ne Wohnung besorgt und mich ansonsten in Ruhe gelassen. Weil zu den bösen Verwandten im Osten haben sie einen Dreiundachtzig ja nicht geschickt.«
    »Haben Sie Ihre Mutter denn nicht dafür gehasst, dass sie Sie allein gelassen hat?«
    Kyra kramte in ihrer Handtasche nach Aspirin. Sie fand ein zerdetschtes Tütchen. »Kann ich den Rest von Ihrem Wasser haben?«
    »Aber sicher. Bitte.« Nike schob das halb volle Glas über den Tisch. Kyra riss den Beutel auf und schüttelte die Tablettenkrümel hinein. Sie schaute zu, wie sie sich sprudelnd auflösten. »Nein. Ich habe meine Mutter nicht gehasst«, sagte sie nach einer Weile. »Aus dem einfachen Grund, weil ich keine Gelegenheit hatte, sie zu hassen. Versuchen Sie mal, sich mit einer Halbtoten wegen Taschengeld, ersten Sex oder Discowochenende zu streiten. Vier Jahre ist meine Mutter vor sich hin krepiert. Und ständig bewacht von diesen Ärzten, die ihr AIDS-Versuchstierchen keine Sekunde aus den Augen gelassen haben.« Sie setzte das Glas an, bevor die Tabletten vollständig zerfallen waren. Die Gischt,
die aus dem Glas sprühte, tat gut auf ihrem heißen Gesicht. Sie wischte sich über den Mund. »Nun ja. Wenigstens hat mir das alles meine Pubertät erspart.«
    »Sie hassen sie doch.« Es klang zufrieden.
    Kyra wiegte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Das Schlimme ist nicht, dass meine Mutter mich allein

Weitere Kostenlose Bücher