Die historischen Romane
erste Regel beim Entziffern einer Geheimbotschaft ist, zu raten, was sie uns sagen will.«
»Ja aber dann braucht man sie doch gar nicht mehr zu entziffern«, lachte ich.
»Nicht in diesem Sinne. Man kann Hypothesen über die ersten Worte der Botschaft aufstellen und dann prüfen, ob die daraus ableitbare Regel für den ganzen übrigen Rest der Handschrift gilt. Zum Beispiel kann man vermuten, dass Venantius sich hier den Schlüssel zum Finis Africae notiert hat. Nehmen wir einmal an, dass die Botschaft davon handelt... Ja, da fällt mir ein bestimmter Rhythmus auf... Sieh dir doch mal die ersten drei Zeichengruppen an, nicht die Zeichen selbst, nur ihre Anzahl... OOOOOOOO OOOOO OOOOOOO. Nun versuch mal, jede Gruppe in Silben von mindestens zwei Zeichen aufzuteilen, und sag laut, was dabei herauskommt: tata-tam ta-ta ta-ta-ta... Kommt dir dabei nichts in den Sinn?«
»Nein, mir nicht.«
»Mir schon: Secretum finis Africae... Aber wenn es so wäre, müssten im dritten Wort der erste und der sechste Buchstabe gleich sein, und tatsächlich sind sie es, schau hier, zweimal das Symbol der Erde. Und der erste Buchstabe des ersten Wortes, das S, müsste derselbe sein wie der letzte des zweiten Wortes, und wirklich steht hier zweimal das Zeichen des Schützen. Vielleicht sind wir auf dem richtigen Weg. Es kann sich natürlich auch um eine Reihe schierer Zufälle handeln. Man bräuchte eine Bestätigung...«
»Wo soll man die finden?«
»Im Text. Man muss einen Text erfinden und dann prüfen, ob er die Hypothesen bestätigt. Freilich kann zwischen einer solchen Prüfung und der nächsten manchmal ein ganzer Tag vergehen. Mehr allerdings auch nicht, denn merk dir: Es gibt keine Geheimschrift, die sich nicht mit ein wenig Geduld entziffern ließe! Aber lass uns jetzt nicht so viel Zeit verlieren, wir wollen schließlich noch in die Bibliothek. Zumal ich ohne meine Augengläser niemals imstande sein werde, den zweiten Teil dieser Botschaft zu lesen. Und du kannst mir leider nicht helfen, weil diese Schrift für dich...«
»Graecum est, non legitur« , vollendete ich beschämt den Satz.
»Eben, und daran siehst du wieder einmal, wie recht Roger Bacon hatte. Sei fleißig und lerne! Aber was stehen wir hier noch herum, packen wir das Pergament zusammen und gehen hinauf! Heute Nacht können uns keine zehn höllischen Heerscharen mehr davon abhalten, in die Bibliothek einzudringen!«
Ich bekreuzigte mich. »Aber sagt mir noch eins: Wer könnte das vorhin gewesen sein? Benno vielleicht?«
»Benno glühte vor Neugier auf Venantius’ Bücher, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns solche üblen Streiche spielen würde. Im Grunde hat er uns doch eine Art Bündnis oder Pakt angeboten. Außerdem scheint er mir nicht den Mut zu haben, sich nachts ins Aedificium zu wagen.«
»Also Berengar? Oder Malachias?«
»Berengar würde ich so was schon eher zutrauen. Schließlich ist er mitverantwortlich für die Bibliothek und macht sich heftige Vorwürfe, weil er eines ihrer Geheimnisse verraten hat. Möglicherweise nahm er an, dass Venantius jenes verschwundene Buch entwendet hatte, und wollte es heimlich wieder an seinen Ort zurückbringen. Dabei haben wir ihn gestört, und nun versteckt er das Buch irgendwo, und mit Gottes Hilfe wird es uns vielleicht gelingen, ihn zu packen, wenn er es zum zweitenmal in die Bibliothek zurückzubringen versucht.«
»Aber aus denselben Gründen könnte es auch Malachias gewesen sein.«
»Das glaube ich eigentlich nicht. Malachias hatte Zeit genug, den Tisch des Venantius zu untersuchen, als er allein im Skriptorium zurückgeblieben war, um das Aedificium für die Nacht zu verschließen. Ich wusste das, aber ich konnte ihn nicht daran hindern. Jetzt wissen wir, dass er es nicht getan hat. Und wenn wir es genau bedenken, haben wir auch gar keinen Grund anzunehmen, dass Malachias etwas von Venantius’ Einbruch in die Bibliothek weiß. Nur Berengar und Benno wissen davon, außer dir und mir. Jorge könnte es durch Adelmus’ Beichte erfahren haben, aber Jorge ist gewiss nicht der Mann, der sich vorhin mit solchem Ungestüm in die steile Wendeltreppe gestürzt hat...«
»Also entweder Berengar oder Benno...«
»Und warum nicht Pacificus von Tivoli oder ein anderer Mönch? Oder der Glasermeister Nicolas, der von meinen Augengläsern weiß? Oder jener zwielichtige Bursche Salvatore, der nachts angeblich wer weiß was für finstere Dinge treibt? Hüten wir uns, den Kreis der Verdächtigen allzu
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