Die historischen Romane
eng zu ziehen, bloß weil Bennos Enthüllungen nur in eine Richtung deuten! Benno wollte uns vielleicht in die Irre führen.«
»Aber Euch ist er doch ehrlich erschienen.«
»Gewiss. Aber merke dir: Die erste Pflicht eines guten Inquisitors ist stets, diejenigen zu verdächtigen, die einem am ehrlichsten erscheinen.«
»Scheußliche Arbeit, die eines Inquisitors«, sagte ich.
»Deswegen habe ich sie ja auch niedergelegt. Doch wie du siehst, komme ich nicht davon los«, erwiderte William lächelnd. »Aber Schluss jetzt mit diesem Gerede! Auf in die Bibliothek!«
Zweiter Tag
NACHT
Worin man endlich ins Labyrinth eindringt, sonderbare Visionen hat und sich, wie es in Labyrinthen vorkommt, verirrt.
W ir stiegen erneut zum Skriptorium hinauf, diesmal über die breite Treppe im Ostturm, die uns auch weiter hinauf zum verbotenen Oberstock führte. Während ich die Lampe hoch vor uns hertrug, dachte ich an die Worte des greisen Alinardus über das Labyrinth und machte mich auf Entsetzliches gefasst.
Überrascht stellte ich fest, als wir an den geheimnisumwitterten Ort gelangten, dass wir uns in einem nicht sehr großen fensterlosen Raum mit sieben Wänden befanden, in dem – wie übrigens im gesamten Oberstock – eine muffige, abgestandene Luft herrschte. Nichts, wovor man sich entsetzen musste.
Der Raum hatte, wie gesagt, sieben Wände, aber nur vier davon enthielten Öffnungen, breite Durchgänge zwischen schlanken, halb in die Mauer eingelassenen Säulen, überwölbt von Rundbögen. Vor den Wänden erhoben sich mächtige Bücherschränke voller säuberlich aufgereihter Bände. Jeder Schrank trug ein Schild mit einer Zahl, desgleichen jedes einzelne Bord – offensichtlich die gleichen Zahlen, die ich im Katalog hinter den einzelnen Buchtiteln gesehen hatte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, gleichfalls voller Bücher. Auf allen Bänden lag eine feine Staubschicht, ein Zeichen dafür, dass sie in regelmäßigen Abständen gereinigt wurden. Auch auf dem Boden lag keinerlei Unrat. Über einem der Türbögen las ich eine gemalte Inschrift: Apocalypsis Iesu Christi. Sie wirkte nicht verblasst, obwohl die Lettern sehr altertümlich aussahen. Später, als wir in den anderen Räumen ähnliche Inschriften fanden, bemerkten wir, dass sie in Wahrheit eingraviert waren, sogar recht tief in den Stein geschnitten und dann ausgemalt mit einer Farbe, wie man sie für die Fresken auf Kirchenwänden benutzt.
Wir schritten durch einen der Türbögen und gelangten in einen annähernd rechteckigen Raum. Die Wand vor uns hatte ein Fenster, dessen Scheiben jedoch nicht aus Glas, sondern aus hauchdünn geschliffenem Alabaster waren. Links führte uns ein Türbogen von der gleichen Art, wie wir ihn soeben durchschritten hatten, in einen weiteren Raum, der ebenfalls vier Wände hatte, eine davon wieder mit einem Fenster und eine mit einem weiteren Durchgang. Beide Räume trugen ähnliche Inschriften über dem Türbogen wie der erste, nur dass die Texte anders lauteten: der eine hieß Super thronos viginti quatuor, der andere Nomen illi mors. Ansonsten waren die Räume zwar kleiner (und wie gesagt nicht sieben-, sondern viereckig), aber genauso möbliert wie der erste: Schränke voller Bücher und in der Mitte ein Tisch.
Wir gingen weiter in den nächsten Raum. Er war leer und trug keine Inschrift. Unter dem Fenster stand ein kleiner Altar aus Stein. Hier gab es drei Türen; durch die eine waren wir gekommen, die zweite öffnete sich zu dem siebeneckigen Innenraum, den wir schon kannten, die dritte führte in einen neuen Raum, nicht unähnlich den bisherigen, aber mit der Inschrift Obscuratus e st sol et aer. Von ihm aus gelangten wir zu einem fünften rechteckigen Raum mit der Inschrift Facta est g rando et ignis. Hier gab es keine weitere Tür.
»Überlegen wir«, sagte William. »Fünf rechteckige oder leicht trapezförmige Zimmer, jedes mit einem Fenster, umgeben den siebeneckigen fensterlosen Innenraum, in den die Treppe mündet. Das scheint mir elementar. Wir befinden uns im Ostturm. Jeder Eckturm des Aedificiums hat von außen gesehen fünf Seiten, jede davon mit einem Fenster. Ja, die Sache ist klar. Das leere Zimmer geht genau nach Osten, in dieselbe Richtung wie der Chor der Kirche, die Strahlen der Morgensonne fallen auf den Altar, wie es sich gehört und frommt. Der einzige raffinierte Einfall ist die Sache mit den Alabasterscheiben: Bei Tage filtern sie das grelle Sonnenlicht zu einem milden
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