Die historischen Romane
die Ideen, die damals umzugehen begannen, nach denen die Kriminellen alle rachitisch oder bucklig sein mussten, mit einer Hasenscharte oder mit Skrofulose geschlagen oder, wie der berühmte Vidocq gesagt hatte, der sich mit Kriminellen auskannte (auch weil er selber einer gewesen war), dass sie alle krummbeinig seien; aber sicher wiesen sie viele Merkmale auf, die typisch für farbige Rassen waren, wie geringe Körperbehaarung, geringer Schädelumfang, fliehende Stirn, wulstige Augenbrauen, enorme Entwicklung der Unterkiefer und Wangenknochen, Prognathie, schräge Augen, dunklere Hautfarbe, dichtes Kraushaar, große Ohren, unregelmäßige Zähne, dazu dumpfe Affekte, übertriebene Leidenschaft für die venerischen Freuden und den Wein, geringe Schmerzempfindlichkeit, Mangel an Moralgefühl, Faulheit, Impulsivität, Unvorsichtigkeit, große Eitelkeit, Spielleidenschaft und Aberglaube.
Ganz zu schweigen von Typen wie dem, der sich ihm jeden Tag an die Fersen heftete, um einen Happen aus seinem Korb zu erbetteln: das Gesicht kreuz und quer von tiefen fahlgrauen Narben zerfurcht, die Lippen aufgedunsen von der Korrosionswirkung des Vitriols, die Nasenknorpel abgeschnitten, die Nasenlöcher ersetzt durch zwei unförmige Höhlen, die Arme lang und dünn, die Hände kurz, dick und behaart bis über die Finger… Allerdings musste Simonini dann seine Vorstellungen von den Stigmata des Verbrechers revidieren, denn dieser, der sich Orest nannte, erwies sich als ein überaus sanftmütiger Mensch, und seit Simonini ihm schließlich etwas aus seinem Korb abgegeben hatte, blieb er ihm mit einer fast hündischen Treue ergeben.
Seine Geschichte war nicht kompliziert: Er hatte bloß ein Mädchen erwürgt, dem seine Liebesangebote nicht gefielen, und wartete nun auf sein Urteil. »Ich weiß nicht, warum sie so böse war«, sagte er, »im Grunde hatte ich sie doch gebeten, mich zu heiraten. Da hat sie gelacht. Als wenn ich ein Monster wäre. Es tut mir so leid, dass sie nicht mehr da ist, aber was hätte ein Mann mit Selbstachtung in so einer Lage tun sollen? Und außerdem, wenn sie mich nicht unter die Guillotine schicken, das Zuchthaus ist gar nicht so schlimm. Man soll dort sehr gut zu essen kriegen.«
Eines Tages zeigte er auf einen Mann und sagte: »Der da, das ist wirklich ein Böser. Er hat versucht, den Kaiser umzubringen.«
So hatte Simonini den Italiener Gaviali gefunden und mit ihm ein Gespräch angefangen.
»Ihr habt Sizilien erobern können, weil wir uns geopfert haben«, sagte Gaviali zunächst. Dann erklärte er: »Nicht ich. Mir haben sie nichts nachweisen können, außer dass ich Beziehungen zu Orsini gehabt hatte. So sind Orsini und Pieri unter die Guillotine gekommen und Di Rudio ist auf der Teufelsinsel gelandet, aber ich, wenn alles gut geht, ich komme hier bald raus.«
Alle kannten die Geschichte von Felice Orsini. Er war ein italienischer Patriot gewesen, der sich in London sechs Bomben mit Knallquecksilber hatte anfertigen lassen. Am Abend des 14. Januar 1858, als Napoleon IIII. mit Kaiserin Eugénie ins Theater fuhr, hatten Orsini und zwei seiner Genossen drei Bomben auf die Karosse des Kaisers geworfen, aber mit spärlichen Ergebnissen: Sie hatten zwar hundertsiebenundfünzig Personen verletzt, von denen acht später starben, aber das Kaiserpaar war unversehrt geblieben.
Bevor er aufs Schafott musste, hatte Orsini dem Kaiser einen herzzerreißenden Brief geschrieben, in dem er ihn aufforderte, seine schützende Hand über Italien zu halten, um dessen Einigung zu ermöglichen, und viele sagten, dieser Brief habe einen gewissen Einfluss auf die weiteren Entscheidungen Napoleons III. gehabt.
»Zuerst hatte ich diese Bomben basteln sollen, »sagte Gaviali, »zusammen mit einer Gruppe von Freunden, die in aller Bescheidenheit gesagt echte Magier im Bombenbauen sind. Dann hatte Orsini uns nicht mehr vertraut. Man weiß ja, die Ausländer sind immer besser als wir, und so hatte er sich auf diesen Engländer versteift, der sich seinerseits auf das Knallquecksilber versteifte. In London konnte man das Zeug in der Apotheke kaufen, man brauchte es zur Herstellung der Daguerreotypien, und hier in Frankreich wurde das Einwickelpapier der ›chinesischen Karamellen‹ damit imprägniert, so dass es, wenn man sie auspackte, eine schöne Explosion gab – bumm, und alle lachten. Das Problem ist nur, dass eine Bombe mit selbstentzündendem Sprengstoff wenig nützt, wenn sie nicht im Kontakt mit dem Ziel
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