Die historischen Romane
einer Kurtisane lag, nicht aber in der eines noch weithin unbekannten Notars.
Auf einen Glücksfall wartend, konnte ich mich nun jedoch von einem Zuschauer in einen Akteur der Pariser Vergnügungen verwandeln. Ich hatte mich nie für das Theater interessiert, für jene grauenhaften Tragödien, in denen Alexandriner deklamiert werden, und die Salons der Museen machen mich trübsinnig. Aber es gab etwas Besseres, das mir Paris zu bieten hatte: die Restaurants.
Das erste, das ich mir erlauben wollte, auch wenn es sündhaft teuer war, hatte ich schon in Turin rühmen hören. Es war das Grand Véfour unter den Bögen des Palais Royal, das auch Victor Hugo frequentiert haben soll, um seine Hammelbrust mit weißen Bohnen zu genießen. Das andere, das mich sofort verführt hatte, war das Café Anglais an der Ecke Rue Gramont und Boulevard des Italiens. Ein Restaurant, das einst für Kutscher und Dienstboten da war und jetzt an seinen Tischen tous Paris bewirtete. Dort entdeckte ich die pommes Anna , die écrevisses bordelaises , die mousses de volaille , die mauviettes en cérises , die petites timbales à la Pompadour , den cimier de chevreuil , die fonds d’artichauts à la jardinière und die Champagner-Sorbets. Schon beim bloßen Aufzählen dieser Namen spüre ich, dass das Leben wert ist, gelebt zu werden.
Außer den Restaurants faszinierten mich auch die Passagen. Ich bewunderte die Passage Jouffroy, vielleicht weil sie drei der besten Restaurants von Paris beherbergt, das Dîner de Paris, das Dîner du Rocher und das Dîner Jouffroy. Noch heute, besonders samstags, scheint ganz Paris sich in diesem kristallenen Tunnelgewölbe zu versammeln, wo gelangweilte bessere Herren und für meinen Geschmack zu stark parfümierte Damen einander auf die Füße treten.
Vielleicht am meisten betörte mich die Passage des Panoramas. Dort sieht man eine eher volkstümliche Fauna, Kleinbürger und Provinzler, die vor Schaufenstern von Antiquitätenläden mit großen Augen Gegenstände bestaunen, die sie sich niemals leisten könnten, aber es kommen auch junge Arbeiterinnen auf dem Heimweg von der Fabrik vorbei. Wer scharf auf das Schielen nach Röcken ist, hält sich besser an die gutgekleideten Frauen in der Passage Jouffroy, aber um diese Arbeiterinnen zu sehen, flanieren hier sogenannte suiveurs auf und ab, Herren mittleren Alters, die die Richtung ihrer Blicke mit grüngetönten Brillen maskieren. Man kann bezweifeln, dass all diese Arbeiterinnen wirklich Arbeiterinnen sind, ihre einfache Kleidung mit Häubchen und Schürze beweist noch gar nichts. Man müsste ihre Fingerspitzen genauer betrachten, und wenn sie keine Stiche, Kratzer oder kleinen Verbrennungen aufweisen, würde das heißen, dass diese Mädchen ein bequemeres Leben führen, vielleicht gerade dank der suiveurs , die sie so betören.
Ich schiele in dieser Passage nicht nach den Arbeiterinnen, sondern nach den suiveurs (wer war es noch gleich, der gesagt hatte, der wahre Philosoph schaut im café chantant nicht auf die Bühne, sondern ins Parkett?). Diese Typen könnten eines Tages meine Klienten werden, oder meine Instrumente. Manchen von ihnen folge ich, wenn sie nach Hause gehen, wo sie vielleicht eine dick gewordene Gattin und ein halbes Dutzend Bälger umarmen. Ich notiere mir die Adresse. Man weiß ja nie. Ich könnte sie mit einem anonymen Brief ruinieren. Eines Tages, meine ich, wenn es nötig werden sollte.
Von den Aufträgen, die mir Lagrange zu Anfang gegeben hat, fällt mir fast keiner mehr ein. Mir kommt nur ein Name in den Sinn: Abbé Boullan, aber das muss später gewesen sein, kurz vor oder nach dem Krieg (sieh an, es gelingt mir also, mich zu erinnern, dass es einen Krieg gegeben hat, mit einem Paris, in dem es drunter und drüber ging…).
Der Absinth ist dabei, sein Werk zu vollenden, wenn ich jetzt eine Kerze ausbliese, würde es eine große Stichflamme geben.
10.
Dalla Piccola ist perplex
3. April 1897
Lieber Hauptmann Simonini,
heute morgen bin ich mit schwerem Kopf und einem sonderbaren Geschmack im Munde erwacht. Gott vergebe mir, es war der Geschmack von Absinth! Ich versichere Ihnen, ich hatte Ihre Aufzeichnungen der letzten Nacht noch nicht gelesen. Wie konnte ich wissen, was Sie getrunken haben, wenn ich es nicht selbst getrunken hätte? Und wie könnte ein Geistlicher den Geschmack eines ihm verbotenen und mithin unbekannten Getränkes erkennen? Oder nein, mein Kopf ist verwirrt, ich schreibe über den
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