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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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recht, dort würde man uns für Angehörige auf der Suche nach den Resten eines geliebten Verstorbenen halten – oder für Romantiker auf der Suche nach der vergangenen Zeit –, und so umkreisten wir beide trauernd das Grab von Abaelard und Héloïse, das Ziel von Künstlern, Philosophen und Verliebten, als Gespenster unter Gespenstern.
    »Also, Simonini, ich möchte, dass Sie sich mit Oberst Dimitri treffen, man kennt ihn in unseren Kreisen nur unter diesem Namen. Er arbeitet für die Dritte Abteilung der Staatskanzlei des Russischen Reiches. Natürlich, wenn Sie nach St. Petersburg fahren, um nach dieser Dritten Abteilung zu fragen, werden alle aus den Wolken fallen, denn offiziell gibt es sie gar nicht. Ihre Agenten haben den Auftrag, die Bildung revolutionärer Gruppen zu überwachen, und bei denen dort ist das Problem viel ernster als hier bei uns. Sie haben es mit den Erben der Dekabristen zu tun, mit Anarchisten und jetzt auch noch mit Enttäuschten aus den Reihen der sogenannten emanzipierten Bauern. Vor ein paar Jahren hat Zar Alexander die Leibeigenschaft aufgehoben, aber jetzt müssen etwa zwanzig Millionen befreite Bauern ihre früheren Herren bezahlen, um Land ›nutznießen‹ zu dürfen, von dem sie nicht leben können. Viele von ihnen strömen in die Städte auf der Suche nach Arbeit…«
    »Und was erwartet dieser Oberst Dimitri von mir?«
    »Er sammelt… wie soll ich sagen… kompromittierende Dokumente zur Judenfrage. In Russland sind die Juden viel zahlreicher als bei uns, und in den Dörfern stellen sie für die russischen Bauern eine Bedrohung dar, weil sie lesen und schreiben und vor allem rechnen können. Ganz zu schweigen von den Städten, wo man annimmt, dass viele von ihnen zu umstürzlerischen Sekten gehören. Meine russischen Kollegen haben ein doppeltes Problem: einerseits auf die Juden zu achten, um zu erkennen, wo und wann sie eine reale Gefahr darstellen, und andererseits die Unzufriedenheit der ländlichen Massen auf sie zu lenken. Aber das wird Ihnen Dimitri alles erklären. Uns betrifft die Sache nicht. Unsere Regierung erfreut sich guter Beziehungen zu den Gruppen der jüdisch-französischen Hochfinanz und hat kein Interesse daran, in diesen Kreisen Unmut zu erzeugen. Wir wollen nur den Russen einen Dienst erweisen. In unserem Metier wäscht eine Hand die andere, und wir leihen Sie, Simonini, freundlicherweise dem Oberst Dimitri aus, obwohl Sie natürlich offiziell mit uns überhaupt nichts zu tun haben. Ach ja, noch etwas, ich rate Ihnen, sich vor dem Gespräch mit Dimitri gut über die Alliance Israélite Universelle zu informieren, die vor etwa sechs Jahren hier in Paris gegründet worden ist. Das sind Ärzte, Journalisten, Juristen, Geschäftsleute, die Crème der jüdischen Gesellschaft in Paris. Politisch sind alle, sagen wir, liberal gesonnen, jedenfalls eher republikanisch als bonapartistisch. Wie es aussieht, ist das Ziel dieser Organisation, den Verfolgten aller Religionen und Länder im Namen der Menschenrechte zu helfen. Bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir annehmen, dass es sich um integre Bürger handelt, aber es ist schwierig, unsere Informanten bei ihnen einzuschleusen, weil die Juden sich kennen und einander erkennen, indem sie sich wie Hunde den Hintern beschnüffeln. Ich werde Sie jedoch mit jemandem in Kontakt bringen, dem es gelungen ist, das Vertrauen der Mitglieder dieser Vereinigung zu erwerben. Es ist ein gewisser Jakob Brafmann 12 , ein Jude, der zum orthodoxen Glauben übergetreten und dann Professor für Hebräisch am theologischen Seminar von Minsk geworden ist. Er befindet sich zur Zeit in Paris, im Auftrag eben jenes Oberst Dimitri und seiner Dritten Abteilung, und es war nicht schwer für ihn, sich in die Alliance Israélite einzuführen, da er einigen dort als Angehöriger ihrer Religion bekannt war. Er wird Ihnen etwas über diesen Verein sagen können.«
    »Verzeihen Sie, Monsieur Lagrange, aber wenn dieser Brafmann ein Informant von Oberst Dimitri ist, müsste doch alles, was er mir sagen wird, dem Oberst schon bekannt sein, und es hat keinen Sinn, dass ich hingehe und es ihm noch einmal erzähle.«
    »Seien Sie nicht naiv, Simonini. Es hat einen Sinn, es hat einen. Wenn Sie hingehen und Dimitri dieselben Dinge erzählen, die er schon von Brafmann gehört hat, dann stehen Sie in seinen Augen als jemand da, der über sichere Informationen verfügt, die ihm bestätigen, was er schon gehört hatte.«
     
    Brafmann. Nach den Erzählungen

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