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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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meines Großvaters erwartete ich ein Individuum mit dem Profil eines Geiers, fleischigen Lippen, stark vorspringender Unterlippe wie bei Negern, tiefliegenden und normalerweise wässrigen Augen, die Lider enger zusammen als bei anderen Rassen, welliges oder krauses Haar, abstehende Ohren… Stattdessen begegnete ich einem Herrn von mönchischem Äußeren mit einem großen graumelierten Bart und dichten, buschigen Augenbrauen, die in einer Art mephistophelischer Löckchen endeten, wie ich sie schon bei Russen und Polen gesehen hatte.
     
     
     
    Wie man sieht, verändert der Glaubensübertritt auch die Gesichtszüge, nicht nur die des Charakters.
    Der Mann hatte eine auch für mich singuläre Neigung zur guten Küche, wobei er jedoch die Gefräßigkeit des Provinzlers bezeugte, der alles probieren will und nicht weiß, wie man ein richtiges Menü zusammenstellt.
    Wir speisten im Rocher de Cancale in der Rue Montorgueil, wo man früher die besten Austern in ganz Paris bekam. Vor etwa zwanzig Jahren war es geschlossen worden, dann hatte ein anderer Eigentümer es wiedereröffnet, es war nicht mehr so wie früher, aber die Austern gab es noch, und für einen russischen Juden waren sie gut genug. Er begnügte sich damit, zwei Dutzend bélons zu kosten, danach bestellte er eine bisque d’écrevisses .
    »Um vierzig Jahrhunderte zu überleben, musste ein so vitales Volk in jedem Land, in dem es lebte, eine eigene Regierung bilden, einen Staat im Staate, den es sich immer und überall bewahrt hat, auch in den Zeiten seiner tausendjährigen Zerstreuung. Nun, und ich habe Dokumente gefunden, die beweisen, dass es diesen Staat und sein Gesetz wirklich gegeben hat: den Kahal .
    »Und was ist das?«
    »Die Institution geht auf die Zeiten von Moses zurück, aber in der Diaspora konnte sie ihres Amtes nicht mehr am hellichten Tage walten, sondern musste sich auf das Dunkel der Synagogen beschränken. Ich habe die Dokumente eines Kahal gefunden, des Kahal von Minsk, von 1794 bis 1830. Alles detailliert aufgeschrieben, jeder noch so kleine Verwaltungsakt ist registriert.«
    Er entrollte mehrere papyrusähnliche Bögen, die mit für mich unverständlichen Zeichen bedeckt waren.
    »Jede jüdische Gemeinde wird von einem Kahal regiert und untersteht einem autonomen Gericht, dem Bet Din . Dies sind die Dokumente eines bestimmten Kahal, aber selbstverständlich gleichen sie denen jedes beliebigen Kahal. Darin steht geschrieben, dass die Angehörigen einer Gemeinde nur ihrem eigenen Gericht gehorchen dürfen und nicht denen des Staates, in dem sie leben, dass und wie sie ihre Feste regeln sollen, dass und wie sie die Tiere für ihre koschere Küche schlachten sollen, um dann die unreinen Teile an die Christen zu verkaufen, dass jeder Jude sich beim Kahal einen Christen kaufen kann, um ihn auszubeuten durch Geldverleih gegen Wucherzinsen, bis er sich seines ganzen Besitzes bemächtigt hat, und dass kein anderer Jude dann Rechte an diesem Christen hat… Mitleidlosigkeit gegenüber den unteren Klassen und Ausbeutung der Armen durch die Reichen sind dem Kahal zufolge keine Verbrechen, sondern Tugenden, wenn sie von den Kindern Israels begangen werden. Einige sagen, besonders in Russland seien die Juden arm. Das stimmt, sehr viele Juden sind Opfer einer verborgenen Regierung, die von den reichen Juden gelenkt wird. Ich kämpfe nicht gegen die Juden, ich bin ja selbst als einer geboren, aber ich kämpfe gegen die jüdische Idee , die sich an die Stelle des Christentums setzen will… Ich liebe die Juden, dieser Jesus, den sie umgebracht haben, ist mein Zeuge…«
    Brafmann holte Atem und bestellte ein aspic de filets mignons de perdreaux . Doch gleich darauf kehrte er wieder zu seinen Bögen zurück, die er mit glänzenden Augen betrachtete. »Und alles ist echt, sehen Sie? Die Beweise sind das Alter des Papiers, die Regelmäßigkeit der Schrift des Notars, der die Dokumente verfasst hat, und die immer gleichen Unterschriften, auch bei verschiedenen Daten.«
    Die Sache war nämlich die, dass Brafmann, der die Dokumente bereits ins Französische und Deutsche übersetzt hatte und von Lagrange über meine Fähigkeiten ins Bild gesetzt worden war, nun von mir eine französische Version produziert haben wollte, die so aussehen sollte, als stamme sie genau aus der Zeit der russischen Originale. Es sei ihm wichtig, sagte er, diese Dokumente auch in anderen Sprachen zu haben, damit er den russischen Sicherheitsdiensten beweisen könne, dass dieses

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