Die historischen Romane
überkreuzen sich nicht nur die Tagebuchseiten von Dalla Piccola fast wütend mit denen von Simonini, wobei sie beide von denselben Fakten sprechen, wenn auch aus entgegengesetzten Perspektiven, sondern sogar Simoninis Seiten selbst scheinen sich wie in Krämpfen zu winden, als falle es ihm ungeheuer schwer, sich zur gleichen Zeit verschiedene Ereignisse, Personen und Situationen ins Gedächtnis zu rufen, mit denen er im Lauf dieser Jahre in Berührung gekommen war. Der Zeitraum, den Simonini rekonstruiert (wobei er oft die Zeiten verwechselt und etwas vorher ansetzt, was aller Wahrscheinlichkeit nach erst später geschehen sein konnte), müsste von Taxils angeblicher Konversion bis zu den Jahren 1896 33 oder 97 gehen. Also gut ein Dutzend Jahre umfassen, in Form einer Reihe knapper Notizen, manche fast stenographisch kurz, als fürchtete er, etwas zu übergehen, was ihm plötzlich eingefallen war, vermischt mit ausführlicheren Passagen über Gespräche, Reflexionen und dramatische Ereignisse.
Deshalb wird der ERZÄHLER, da ihm jene ausgewogene vis narrandi fehlt, die auch beim Tagebuchschreiber zur Neige zu gehen scheint, sich darauf beschränken, die Erinnerungen in mehrere Kurzkapitel aufzuteilen, so als wären die Dinge eins nach dem anderen oder eins vom anderen getrennt geschehen, während sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach mehr oder weniger gleichzeitig zutrugen – etwa wenn Simonini von einem Gespräch mit Ratschkowski kam, um sich am selben Nachmittag mit Gaviali zu treffen. Aber das passt schon, wie man zu sagen pflegt.
Salon Adam
Simonini erinnert sich, dass er beschloss, nachdem er Taxil erfolgreich zur Konversion überredet hatte (wobei er nicht weiß, wieso der ihm dann von Dalla Piccola gleichsam aus der Hand genommen wurde), wenn nicht direkt in eine Freimaurerloge einzutreten, so doch mehr oder minder republikanische Kreise zu frequentieren, in denen er, wie er sich vorstellte, Freimaurer in großer Zahl finden würde. Und dank der guten Dienste derer, die er in der Buchhandlung an der Rue de Beaune kennengelernt hatte, insbesondere Toussenels, fand er Aufnahme im literarischen Salon jener Juliette Lamessine, die inzwischen Madame Adam geworden war, Gattin eines Abgeordneten der republikanischen Linken, der den Crédit Foncier gegründet hatte und später Senator auf Lebenszeit wurde. So zierten Geld, hohe Politik und Kultur jenen Salon erst am Boulevard Poissonnière, dann am Boulevard Malesherbes, in dem nicht nur die Gastgeberin selbst eine angesehene Autorin war (sie hatte sogar eine Garibaldi-Biographie verfasst), sondern auch Staatsmänner wie Gambetta, Thiers oder Clemenceau und Schriftsteller wie Prudhomme, Flaubert, Maupassant und Turgenjew verkehrten. Dort begegnete Simonini auch dem greisen, inzwischen zum Monument seiner selbst erstarrten, durch Alter, Ehrungen und die Überbleibsel eines Schlaganfalls versteinerten Victor Hugo.
Simonini war es nicht gewohnt, in solchen Kreisen zu verkehren. Es muss genau zu jener Zeit gewesen sein, als er Dr. Froïde im Magny kennenlernte (wie er sich in seiner Tagebuchaufzeichnung vom 25. März erinnert) und gelächelt hatte, als der junge Arzt ihm erzählte, dass er sich für die Teilnahme an einem Diner bei Dr. Charcot einen Frack leihen und eine schöne Krawatte kaufen musste. Jetzt musste sich auch Simonini nicht nur einen Frack und eine Krawatte zulegen, sondern auch einen schönen neuen Bart vom besten (und diskretesten) Perückenmacher in Paris machen lassen. Doch obwohl ihm aus seiner Studienzeit in Turin eine gewisse Bildung geblieben war und er in seinen Pariser Jahren die Lektüre nicht ganz vernachlässigt hatte, fühlte er sich etwas unbehaglich, wenn um ihn herum eine brillante, wohlinformierte, bisweilen sogar profunde Konversation geführt wurde, deren Protagonisten sich immer à la page erwiesen. Deshalb zog er es vor zu schweigen, allen aufmerksam zuzuhören und nur gelegentlich auf einige lang zurückliegende Waffentaten bei Garibaldis Expedition in Sizilien anzuspielen, denn in Frankreich verkaufte sich Garibaldi, wie man zu sagen pflegt, immer noch gut.
Im übrigen war Simonini frustriert. Er hatte erwartet, in Juliette Adams Salon nicht nur republikanische Reden zu hören, was für jene Zeit das mindeste war, sondern dezidiert revolutionäre, stattdessen umgab sich die Hausherrin gerne mit Russen aus dem Milieu des Zarismus, war anglophob wie ihr Freund Toussenel und druckte in ihrer Nouvelle Revue einen Autor wie
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