Die historischen Romane
setzte sie noch häretischer fort, als sie ohnehin war. Er scheute sich nicht zu behaupten, er sei der einzige wahre Apostel Gottes, und alle Dinge müssten geteilt werden in gemeinschaftlicher Liebe unter den Menschen, und es sei auch erlaubt, sich unterschiedslos mit allen Weibern einzulassen, niemand könne dafür des Konkubinats angeklagt werden, nicht einmal, wenn er mit Gattin und Tochter zugleich verkehre...«
»Hat er diese Ruchlosigkeiten wirklich gepredigt, oder hat man sie ihm nur unterstellt? Ich habe nämlich gehört, dass auch die Spiritualen solcher Verbrechen bezichtigt wurden, zum Beispiel die Brüder von Montefalco...«
»De hoc satis!« fuhr mir Ubertin scharf über den Mund. »Sie waren keine Brüder! Sie waren Ketzer! Und verseucht von eben jenem Dolcino! Und außerdem – hör gut zu, mein Sohn! – genügt es zu wissen, was Dolcino weiter tat, um zu erkennen, was für ein übler Ketzer er war. Man weiß nicht genau, wie er mit den Lehren der Pseudo-Apostel in Berührung kam. Vielleicht war er als junger Mensch einmal in Parma gewesen und hatte dort Segarelli predigen gehört. Man weiß nur, dass er nach Segarellis Tod eine Zeitlang im Bolognesischen Kontakte mit jenen Ketzern hatte. Und sicher ist, dass er in Trient zu predigen anfing. Dort verführte er dann ein wunderschönes Fräulein aus nobler Familie, Margaretha, oder vielleicht war es auch umgekehrt und sie verführte ihn wie Heloïse den Abaelard... Denn wisse, stets ist es das Weib, mit dessen Hilfe der Dämon in die Herzen der Männer eindringt... Jedenfalls wurde es nun dem Bischof von Trient zu viel, und er ließ den Aufrührer aus seiner Diözese verjagen. Aber Dolcino hatte inzwischen wohl tausend Menschen um sich geschart, mit denen er sich auf einen langen Marsch begab, der ihn durch die Berge in die Dörfer und Täler seiner Heimat zurückführte. Und überall, wo er hinkam, fand er neue Anhänger, die sich von seiner Predigt verführen ließen, und vermutlich schlossen sich ihm auch viele Waldenser an, die in den Bergen lebten, durch die er zog, oder vielleicht wollte er sich auch mit jenen Waldensern zusammentun. Im Novaresischen fand er ein günstiges Klima für seine Revolte vor, denn die Vasallen, die das Dorf Gattinara im Auftrag des Bischofs von Vercelli beherrscht hatten, waren kurz zuvor von den Dörflern verjagt worden, so dass diese nun in Dolcinos Banditen willkommene Verbündete sahen.«
»Was hatten die Vasallen des Bischofs denn getan?«
»Das weiß ich nicht, und es steht mir nicht zu, darüber zu richten. Doch wie du siehst, vermählt sich die Häresie nicht selten mit der Revolte gegen die Feudalherren, und so kommt es, dass der Häretiker zwar am Anfang die hehre Armut predigt, bald aber allen Verlockungen der Macht, des Krieges und der Gewalt erliegt. So gab es zum Beispiel in der Stadt Vercelli einen Streit zwischen verfeindeten Adelsfamilien, den sich die Pseudo-Apostel zunutze machten, während jene Familien sich ihrerseits das Durcheinander zunutze machten, das durch den Eingriff der Pseudo-Apostel entstand. Unterdessen warben die Feudalherren Abenteurer und Söldner an, um die Städte zu überfallen, woraufhin die Städter den Bischof von Novara um Schutz ersuchten.«
»Mein Gott, was für eine komplizierte Geschichte! Und auf wessen Seite schlug sich Dolcino?«
»Ich weiß nicht, er war ein Kapitel für sich. Er machte sich all diese Fehden und Streitereien zunutze, um im Namen der Armut den Kampf wider das Eigentum anderer zu predigen. Er verschanzte sich mit den Seinen, die inzwischen an die dreitausend waren, auf einem hohen Berg bei Novara, den man die Kahle Wand heißt, Monte della Parete Calva, und sie bauten sich Wohnstätten und eine richtige Festung dort oben und lebten in schändlichster Unzucht, Männer und Weiber wild durcheinander, und Dolcino herrschte über die ganze Horde. Und Rundschreiben schickte er aus an seine Getreuen, in denen er seine Lehren darlegte. Die Armut müsse ihr Ideal sein, schrieb er, und sie seien an keinerlei äußere Gehorsamspflicht gebunden, und er, Dolcino, sei von Gott gesandt, um die Weissagungen zu deuten und die Schriften des Alten und Neuen Testaments auszulegen. Die Kleriker aber, ob Weltpriester, Prediger oder auch Minoriten, nannte er Diener des Teufels und entband seine Anhänger von der Pflicht, ihnen zu gehorchen. Und er unterschied vier Zeitalter im Leben der Christenheit: erstens das des Alten Testaments, der Patriarchen und der Propheten vor
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