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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Kleinbourgeoisie der selbständigen Berufe, der Staatsapparate und der Armee. Wissen Sie, wie viele jüdische Offiziere es heute bei uns in der Armee gibt? Mehr, als Sie glauben würden. Und wenn’s nur die Armee wäre: die Juden haben sich auch nach und nach in die Welt der anarchistischen und kommunistischen Umstürzler eingeschlichen. Waren die Salonrevolutionäre früher antijüdisch, weil antikapitalistisch, und die Juden letztlich stets Verbündete der jeweiligen Regierung, so ist es heute Mode, oppositioneller Jude zu sein. Denken Sie nur an diesen Marx, von dem unsere Revolutionäre soviel reden. Was war er anderes als ein mittelloser Bürger, der auf Kosten einer aristokratischen Ehefrau lebte? Und vergessen wir auch nicht, dass zum Beispiel die ganze höhere Erziehung in ihrer Hand liegt, vom Collège bis zur École des Hautes Études, desgleichen alle Pariser Theater und ein großer Teil der Zeitungen, siehe das Journal des débats , das heute das offizielle Organ der Hochfinanz ist.«
    Simonini begriff nicht recht, was genau Hébuterne jetzt, wo ihm die jüdischen Bürger zu aufdringlich geworden waren, über sie wissen wollte. Auf seine Nachfrage machte Hébuterne eine vage Geste.
    »Ich weiß es nicht. Wir müssen sie nur im Auge behalten. Die Frage ist, ob wir dieser neuen Kategorie von Juden trauen können. Wohlgemerkt, ich denke nicht an die Phantasien, die über ein jüdisches Welteroberungskomplott zirkulieren! Diese bürgerlichen Juden erkennen sich in ihrer ursprünglichen Gemeinde nicht mehr wieder und schämen sich ihrer nicht selten, aber zugleich sind sie unzuverlässige Bürger, weil erst seit kurzem vollberechtigte Franzosen, und morgen könnten sie uns verraten, womöglich gemeinsam mit preußischen bürgerlichen Juden. Zur Zeit der preußischen Invasion waren die meisten Spione elsässische Juden.«
    Sie wollten sich schon verabschieden, da fügte Hébuterne noch hinzu: »Nebenbei: Zur Zeit von Lagrange hatten Sie doch mit einem gewissen Gaviali zu tun. Sie hatten dafür gesorgt, dass er festgenommen wurde.«
    »Ja, er war der Kopf dieser Attentäter in der Rue de la Huchette. Wenn ich nicht irre, sind sie jetzt alle auf der Teufelsinsel oder irgendwo dort unten.«
    »Alle außer Gaviali. Er ist vor kurzem ausgebrochen und in Paris gesehen worden.«
    »Kann man von der Teufelsinsel ausbrechen?«
    »Man kann überall ausbrechen, wenn man genug Haare auf den Zähnen hat.«
    »Warum nehmen Sie ihn nicht fest?«
    »Weil uns ein guter Bombenbastler zur Zeit ganz gelegen käme. Wir haben ihn identifiziert: Er verdingt sich als Lumpensammler in Clignancourt. Warum gehen Sie ihn nicht zurückholen?«
    Es war nicht schwer, die Lumpensammler in Paris zu finden. Obwohl über die ganze Stadt verstreut, war ihr Reich einst zwischen der Rue Mouffetard und der Rue Saint-Médard gewesen. Jetzt waren sie, jedenfalls die, die Hébuterne identifiziert hatte, an der Porte de Clignancourt zu Hause und lebten in einer Kolonie von Baracken mit Reisigdächern, zwischen denen in der schönen Jahreszeit Sonnenblumen blühten, die erstaunlicherweise in jener abstoßenden Atmosphäre gewachsen waren.
    Am Rande dieser Kolonie befand sich ein sogenanntes Restaurant der Nassen Füße, das so hieß, weil die Interessenten draußen auf der Straße warten mussten, bis sie an die Reihe kamen, und wenn sie für einen Sous eingetreten waren, durften sie eine große Gabel in einen Topf tauchen und sich herausfischen, was sie fanden – wenn sie Glück hatten, war es ein Stück Fleisch, andernfalls eine Karotte – und wieder gehen.
    Die Lumpensammler hatten ihre eigenen hôtels garni . Nichts Besonderes, ein Bett, ein Tisch, zwei wacklige Stühle. An der Wand Heiligenbildchen oder Stiche aus alten Romanen, die sie im Müll gefunden hatten. Eine Spiegelscherbe, das Nötigste für die sonntägliche Toilette. Hier sortierte der Lumpensammler seine Funde: die Knochen, das Porzellan, das Glas, die alten Bänder, die Fetzen von Seide. Der Tag begann morgens um sieben, und wer abends nach sechs von den Stadtpolizisten (oder flics , wie man sie inzwischen allgemein nannte) noch bei der Arbeit gefunden wurde, musste eine Strafe zahlen.
     
    Simonini ging Gaviali dort suchen, wo er hätte sein müssen, und nach einer Weile zeigte man ihm in einer bibine , wo es nicht nur Wein, sondern auch Absinth gab, der angeblich vergiftet war (als ob der normale Absinth nicht schon giftig genug wäre) ein Individuum. Simonini hatte sich extra den

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