Die historischen Romane
Bart abgenommen, weil ihm eingefallen war, dass er zur Zeit seiner Bekanntschaft mit Gaviali noch keinen getragen hatte. Seitdem waren zwanzig Jahre vergangen, und er glaubte, noch einigermaßen wiedererkennbar zu sein. Wer nicht wiederzuerkennen war, war Gaviali.
Er hatte ein käseweißes faltiges Gesicht und einen langen Bart. Eine gelbliche Krawatte, die eher wie ein Strick aussah, hing ihm von einem fettigen Kragen, aus dem ein spindeldürrer Hals kam. Auf dem Kopf trug er einen zerlumpten Hut, am Leib eine grünliche Joppe über einer zerknitterten Weste, die Schuhe waren kotbesudelt, als hätte er sie seit Jahren nicht geputzt, und die Schnürsenkel klebten schlammig am Leder. Doch unter den Lumpensammlern fiel er nicht weiter auf, da niemand besser gekleidet war.
Simonini nannte seinen Namen und erwartete ein freudiges Wiedererkennen. Aber Gaviali sah ihn mit einem harten Blick an.
»Sie haben den Mut, Capitaine, mir wieder vor Augen zu treten?« sagte er, und angesichts von Simoninis Verblüffung fuhr er fort: »Halten Sie mich für einen Idioten? Ich habe genau gesehen, an jenem Tag, als die Gendarmen kamen und auf uns schossen, dass Sie diesem Unglücklichen, den Sie uns als Ihren Agenten geschickt hatten, den Gnadenschuss gaben. Und danach fanden wir Überlebenden uns alle auf demselben Segelschiff wieder, das uns zur Teufelsinsel brachte, nur Sie waren nicht dabei. Da war’s nicht schwer, zwei und zwei zusammenzuzählen. In fünfzehn Jahren Nichtstun auf der Teufelsinsel wird man gescheit: Sie haben sich unser Komplott ausgedacht, um uns dann zu denunzieren. Muss ein einträgliches Metier sein.«
»Tja, und nun? Wollen Sie sich rächen? Sie sind bloß noch ein menschliches Wrack, und wenn Ihre Hypothese stimmt, müsste die Polizei mich anhören, und da bräuchte ich nur die Zuständigen zu informieren, und Sie kämen wieder auf die Teufelsinsel.«
»Ich bitte sie, Capitaine. Die Jahre dort unten haben mich weise gemacht. Wenn man Verschwörer sein will, muss man die Begegnung mit einem Spitzel in Rechnung stellen. Das ist wie beim Räuber-und-Gendarm-Spielen. Und außerdem, hat nicht jemand gesagt, mit den Jahren werden alle Revolutionäre zu Verteidigern von Thron und Altar? Mir liegt nicht viel an Thron und Altar, aber für mich ist die Zeit der großen Ideale vergangen. Bei dieser sogenannten dritten Republik weiß man ja nicht mal, wo der Tyrann ist, den man töten soll. Nur auf eines verstehe ich mich noch: auf Bomben. Und dass Sie mich suchen gekommen sind, sagt mir, dass Sie Bomben wollen. Na gut, solange Sie dafür bezahlen warum nicht? Sie sehen ja, wie ich lebe. Eine bessere Unterkunft und ein besseres Restaurant würden mir genügen. Wen soll ich denn in den Tod befördern? Wie alle einstigen Revolutionäre bin ich käuflich geworden. Eine Lage, die Ihnen ja vertraut sein müsste.«
»Ich will Bomben von Ihnen, Gaviali, ich weiß noch nicht, was für welche und wo. Wir sprechen darüber zu gegebener Zeit. Was ich Ihnen versprechen kann, ist Geld, Tilgung Ihrer Vergangenheit und neue Dokumente.«
Gaviali erklärte sich bereit zum Dienst bei jedem, der ihn gut bezahlte, und Simonini gab ihm fürs erste genug zum Leben für mindestens einen Monat, ohne Lumpen sammeln zu müssen. Nichts ist besser als Zuchthaus, um Gehorsam gegenüber denen zu lehren, die das Sagen haben.
Was Gaviali tun sollte, erfuhr Simonini dann später von Hébuterne. Im Dezember 1893 hatte ein Anarchist namens Auguste Vaillant einen kleinen Sprengkörper (gefüllt mit Nägeln) in die Deputiertenkammer geworfen und gerufen: »Tod der Bourgeoisie! Lang lebe die Anarchie!« Eine symbolische Geste. »Hätte ich töten wollen, hätte ich die Bombe mit Bleikugeln gefüllt«, sagte Vaillant im Prozess, »ich kann doch nicht lügen, bloß um Ihnen die Freude zu machen, mir den Kopf abzuschlagen.« Um ein Exempel zu statuieren, hatten sie ihm dann trotzdem den Kopf abgeschlagen. Aber nicht dies war das Problem: Die Sicherheitsdienste waren besorgt, dass Gesten wie diese als heroisch erscheinen und folglich nachgeahmt werden könnten.
»Es gibt schlechte Lehrmeister«, erklärte Hébuterne, »die Terror und soziale Unruhe rechtfertigen und dazu anstacheln, während sie selber ruhig in ihren Clubs und Restaurants sitzen und Champagner trinkend von Dichtung reden. Denken Sie nur an diesen Journalisten-Schmierfink Laurent Tailhade – der zugleich Deputierter ist und daher doppelten Einfluss auf die öffentliche Meinung
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