Die historischen Romane
wir jetzt gesehen; was den Himmel betrifft... Nun ja, er hat seine Vorstellungen noch nicht klar zum Ausdruck gebracht, jedenfalls noch nicht öffentlich, aber ich weiß, dass er mit seinen Vertrauten darüber gesprochen hat. Er ist dabei, einige wirklich sehr abwegige, wenn nicht perverse Lehrsätze aufzustellen, die den Kern der Heilslehre antasten und unserer Predigt alle Kraft nehmen würden!«
»Was für Lehrsätze?« kam es von allen Seiten.
»Fragt Bruder Berengar, er weiß es, er hat mit mir darüber gesprochen.« Ubertin meinte den Bruder Berengar Talloni, der in den letzten Jahren einer der entschiedensten Gegner des Papstes in der Kurie gewesen war und der, aus Avignon kommend, sich vor zwei Tagen der Legation angeschlossen hatte.
»Ja, das ist, in der Tat eine finstere und fast unglaubliche Geschichte«, sagte der Angesprochene düster. »Es scheint, dass Johannes zu behaupten vorhat, die Gerechten würden erst nach dem Jüngsten Gericht das Antlitz Gottes schauen! Schon seit einiger Zeit meditiert er über den neunten Vers im sechsten Kapitel der Apokalypse, wo von der Öffnung des fünften Siegels die Rede ist und wo der Apostel sagt: ›Ich sah unter dem Altar die Seelen derer, die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen und um des Zeugnisses willen, das sie gegeben hatten. Und sie schrien mit großer Stimme und sprachen: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest unser Blut an denen die auf der Erde wohnen?‹ Und da der Apostel fortfährt: ›Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weißes Kleid, und ward zu ihnen gesagt, dass sie sich gedulden sollten noch eine kleine Zeit, bis dass vollends dazukämen ihre Mitknechte und Brüder‹ und so weiter, meint nun der Papst, das sei dahingehend zu deuten, dass sie erst nach Vollendung des Letzten Gerichts die Herrlichkeit Gottes schauen würden...«
»Zu wem hat er das gesagt?« fragte Michael voller Bestürzung.
»Bisher nur zu wenigen engen Vertrauten, aber die Sache hat sich herumgesprochen. Es heißt, er bereite eine Erklärung vor, nicht für heute und morgen, es dauert vielleicht noch ein paar Jahre, doch er berät sich mit seinen Theologen...«
»Hm, hm!« grunzte Hieronymus kauend.
»Aber damit nicht genug, er will anscheinend noch weiter gehen und sogar behaupten, dass auch die Hölle erst am Jüngsten Tage geöffnet werde, nicht einmal die Teufel kämen vorher hinein...«
»Herr Jesus, steh uns bei!« rief Hieronymus voller Entsetzen. »Und was sollen wir dann den Sündern erzählen, wenn wir ihnen nicht mehr damit drohen können, dass sie gleich nach dem Tod in die Hölle kommen?«
»Wir sind in den Händen eines Irren«, stellte Ubertin fest. »Aber ich verstehe nicht recht, warum er das alles behaupten will...«
»Die ganze Ablasslehre bricht zusammen«, lamentierte Hieronymus. »Auch er selbst wird keinen Sündenablass mehr verkaufen können! Denn wieso sollte ein Priester, der Schamlosigkeiten begangen hat, so viele Goldpfunde zahlen, um einer Strafe zu entgehen, die noch so fern ist?!«
»So fern nun auch wieder nicht«, widersprach Ubertin. »Die Zeiten sind nahe!«
»Das weißt vielleicht du, lieber Bruder, aber die Laien wissen es nicht, da liegt doch das Problem!« erregte sich der Bischof von Kaffa, und es sah gar nicht mehr aus, als ob er sein Mahl noch genieße. »Was für eine unselige Idee! Das kommt bestimmt von diesen Predigerbrüdern... oh, oh!« Er jammerte laut unter heftigem Schütteln des Kopfes.
»Aber warum, aus welchem Grund will der Papst diese Dinge behaupten?« fragte nun auch Michael von Cesena.
»Ich glaube, es gibt dafür keinen vernünftigen Grund«, antwortete William. »Das Ganze ist eher wohl eine Machtprobe, die er sich selbst auferlegt, ein Akt seines Stolzes: Er will tatsächlich derjenige sein, der über Himmel und Erde entscheidet! Ich wusste bereits von diesen Gerüchten, William von Ockham hatte sie mir geschrieben. Aber warten wir ab, wer sich am Ende durchsetzen wird: der Papst oder die Theologen, die Stimme der ganzen Kirche, die Wünsche des christlichen Volkes, die Bischöfe...«
»Ich fürchte«, sagte Michael düster, »in Fragen der Lehre wird er die Theologen auf seine Seite bringen.«
»Das ist noch gar nicht gesagt«, meinte William. »Wir leben schließlich in Zeiten, in denen die Gottesgelehrten sich nicht mehr scheuen, den Papst zum Häretiker zu erklären. Und die Gottesgelehrten sind auf ihre Weise die Stimme des Volkes der
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