Die historischen Romane
sprach, weil er mit seinem unheimlich durchdringenden Gespür für die menschlichen Leidenschaften die Intensität meines Blickes erfasst hatte.
»Nein, nein...«, wehrte ich ab, »ich betrachte sie nicht... das heißt, vielleicht betrachte ich sie, aber sie ist keine Hexe... ich meine, wir wissen es nicht, sie ist vielleicht unschuldig...«
»Du betrachtest sie, weil sie schön ist. Ja, sie ist schön, nicht wahr?« fuhr er mit großer Wärme fort und drückte mir fest den Arm. »Wenn du sie betrachtest, weil sie schön ist, und wenn du von ihr betört bist – und ich weiß, dass du von ihr betört bist, denn die Sünde, derer sie angeklagt wird, macht sie dir noch begehrenswerter! – und wenn du bei ihrem Anblick Begierde empfindest, so ist sie gerade deswegen eine Hexe! Sieh dich vor, mein Sohn... Die Schönheit des Leibes ist auf die Haut beschränkt. Wenn die Männer sehen könnten, was unter der Haut ist, wie einst bei der Luchsin in Böotien, sie würden erschauern beim Anblick der Frau. All diese Anmut besteht nur aus Schleim und Blut und Körpersäften und Gallert. Wenn du bedenkst, was in den Nasenlöchern, im Hals und im Bauche steckt, so findest du nichts als ekligen Auswurf. Und wenn es dich ekelt, mit den Fingerspitzen den Schleim oder Kot zu berühren, wie kannst du dann jemals begehren, die Hülle um all diesen Kot zu umarmen?«
Mich überkam ein würgender Brechreiz, ich wollte kein Wort mehr von alledem hören. William, der es mit angehört hatte, kam mir zu Hilfe. Hart trat er dazwischen, packte den Arm des Alten und löste ihn von dem meinen.
»Das genügt, Ubertin!« sagte er schroff. »In Kürze wird dieses Mädchen unter der Folter liegen und dann auf dem Scheiterhaufen. Sie wird genau das sein, was du sagst: Schleim und Blut und Körpersäfte und Gallert. Doch es werden dann unseresgleichen sein, die unter ihrer Haut freigelegt haben, was Gott verhüllt und geschmückt lassen wollte mit dieser Haut. Und aus der Sicht der Grundstoffe bist du nicht besser als sie. Also lass den Jungen in Ruhe!«
Ubertin blickte beschämt zu Boden. »Vielleicht habe ich gesündigt«, murmelte er. »Zweifellos habe ich gesündigt. Was kann schon ein Sünder anderes tun?«
Die Versammlung löste sich langsam auf, und alle gingen, in Grüppchen über den Vorfall redend, in ihre Zellen zurück. William wechselte noch ein paar Worte mit Michael von Cesena und den übrigen Minoriten, die wissen wollten, was er von der Sache hielt.
»Bernard hat jetzt ein Argument in der Hand, mag es auch mehrdeutig sein: In dieser Abtei gehen Schwarzkünstler um und treiben die gleichen finsteren Dinge, die in Avignon gegen den Papst unternommen wurden. Freilich ist das noch kein schlagender Beweis, und er kann es nicht ohne Weiteres dazu benutzen, das morgige Treffen platzen zu lassen. Er wird heute Nacht versuchen, jenem Unglücksraben noch weitere Hinweise zu entlocken, aber er wird sich ihrer gewiss nicht gleich morgen früh bedienen, sondern sie in der Hinterhand behalten, um sie gegen uns zu verwenden, falls die Debatte einen ihm unerwünschten Verlauf nehmen sollte.«
»Könnte er denn dem Gefangenen etwas entlocken, was sich gegen uns verwenden ließe?« fragte Michael besorgt.
»Ich hoffe nicht«, antwortete William vage, und mir wurde klar, woran er dachte: Wenn Salvatore dem Inquisitor verraten sollte, was er uns an jenem Morgen über seine und des Cellerars dunkle Vergangenheit gesagt hatte, und wenn er dabei gar Andeutungen über das Verhältnis der beiden zu Ubertin machen sollte, so könnte sich eine recht unangenehme Situation ergeben.
»Warten wir ab, was geschieht«, sagte William in scheinbar sorglosem Ton. »Außerdem, lieber Michael, ist ohnehin schon alles im Voraus entschieden. Aber du willst es ja wissen.«
»Das will ich«, nickte Michael, »und der Herr wird mir dabei helfen. Möge der heilige Franz für uns alle bitten!«
»Amen!« schlossen die Brüder im Chor.
»Hoffentlich kann er das auch«, bemerkte William respektlos. »Es könnte doch sein, dass der heilige Franz irgendwo sitzt und auf das Jüngste Gericht wartet, ohne den Herrn schauen zu können von Angesicht zu Angesicht...«
»Verflucht sei der Ketzer Johannes!« hörte ich den alten Bischof von Kaffa poltern, während wir sorgenvoll auseinandergingen. »Wenn er uns jetzt noch die Hilfe der Heiligen wegnimmt, was wird dann bloß aus uns armen Sündern!«
FÜNFTER TAG
Fünfter Tag
PRIMA
Worin eine brüderliche Diskussion
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