Die historischen Romane
lieber einmal zu rekonstruieren, was Severin genau sagte, als er im Narthex mit uns sprach... Er sagte, er hätte ein Buch gefunden...«
»Und Ihr sagtet, er solle es Euch gleich herbringen, und er sagte, das könne er nicht...«
»Ja, und dann wurden wir unterbrochen. Warum konnte er nicht? Ein Buch kann man tragen. Und warum zog er sich Handschuhe an? Ob irgendetwas am Einband des Buches ist? Etwas im Zusammenhang mit dem Gift, an dem Berengar und Venantius gestorben sind? Eine tückische Falle, eine vergiftete Stelle...«
»Eine Schlange!« regte ich an.
»Warum nicht ein Wal? Nein, wir phantasieren schon wieder! Das Gift muss durch den Mund in den Körper, wie wir gesehen haben. Außerdem hat Severin nicht gesagt, er könne das Buch nicht tragen. Er hat gesagt, ich müsse selber kommen und sehen, es sei gefährlich. Und er hat sich Handschuhe angezogen... Womit wir einstweilen nur wissen, dass dieses mysteriöse Buch mit Handschuhen angefasst werden muss. Das gilt auch für dich, Benno, falls du es findest, was ich hoffe. Und da du so hilfsbereit bist, kannst du dich gleich mal nützlich machen: Geh ins Skriptorium und achte genau auf Malachias. Lass ihn nicht aus den Augen!«
»Wird gemacht!« sagte Benno, sichtlich froh über den Auftrag, und eilte sofort hinaus.
Wir konnten die Mönche draußen jetzt nicht mehr länger zurückhalten, und rasch füllte sich der Raum von Neuem. Die Stunde des Mittagsmahls war inzwischen vorüber, wahrscheinlich versammelte Bernard Gui bereits seine Leute im Kapitelsaal.
»Hier können wir jetzt nichts mehr tun«, sagte William.
Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf: »Vielleicht hat der Mörder das Buch aus dem Fenster geworfen, hinter das Hospital, um es sich später zu holen!« William warfeinen skeptischen Blick auf die fest verriegelten Fenster. »Na gut«, sagte er, »sehen wir mal nach.«
Wir gingen hinaus und inspizierten die Rückseite des Gebäudes, das sich fast an die Umfassungsmauer lehnte, aber doch einen schmalen Durchgang ließ. William ging vorsichtig voran, denn hier war der Schnee noch unberührt. Unsere Füße machten deutlich erkennbare Spuren auf der dünnen verharschten Kruste; wenn jemand vor uns hier gegangen wäre, hätte der Schnee ihn verraten müssen. Nichts.
Wir kehrten dem Hospital mitsamt meiner dürftigen Hypothese den Rücken, um uns zum Kapitelsaal zu begeben. Während wir den Garten durchquerten, fragte ich William, ob er Benno wirklich vertraue. »Überhaupt nicht«, sagte er. »Aber wir haben ihm nichts gesagt, was er nicht schon wusste, und wir haben ihm Angst vor dem Buch gemacht. Und indem wir ihn jetzt den Bibliothekar überwachen lassen, lassen wir ihn zugleich durch den Bibliothekar überwachen, der sicher das Buch auf eigene Rechnung sucht.«
»Und was hat der Cellerar gesucht?«
»Das werden wir gleich erfahren. Zweifellos etwas, das er dringend brauchte, um eine Gefahr abzuwenden, die ihm furchtbare Angst macht. Und Malachias muss dieses Etwas kennen, wie erklärst du dir sonst, warum Remigius ihn so verzweifelt angefleht hat?«
»Jedenfalls ist das Buch jetzt verschwunden...«
»Das glaube ich freilich am allerwenigsten«, sagte William, während wir vor dem Kapitelsaal ankamen. »Wenn es da war, und Severin hat gesagt, dass es da war, dann ist es entweder fortgeschafft worden oder immer noch da.«
»Und da es nicht da ist, muss es jemand fortgeschafft haben«, folgerte ich.
»Wer sagt dir, dass wir nicht von einer anderen Prämisse ausgehen müssen? Zum Beispiel von dieser: Da alles dafür spricht, dass niemand es fortgeschafft haben kann...«
»...müsste es noch dasein. Aber es war nicht da!«
»Moment mal! Wir sagen, dass es nicht da war, weil wir es nicht gefunden haben. Aber vielleicht haben wir es nicht gefunden, weil wir nicht da nachgeschaut haben, wo es war.«
»Aber wir haben überall nachgeschaut!«
»Nachgeschaut, ja, aber vielleicht nicht gesehen. Oder gesehen, aber nicht erkannt. Adson, denk doch mal nach, wie hatte Severin das Buch genannt?«
»Er sagte, es sei ein Buch, das er nicht kenne, ein griechisches Buch...«
»Nein, jetzt erinnere ich mich, er sagte: ein seltsames Buch! Severin war ein Gelehrter, und für einen Gelehrten ist ein griechisches Buch nicht seltsam, auch wenn er kein Griechisch versteht, denn in jedem Falle kennt er die Schrift. Ein Gelehrter würde nicht einmal ein arabisches Buch als seltsam bezeichnen, auch wenn er kein Arabisch versteht...« William unterbrach sich.
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