Die historischen Romane
eintraf und Gastrecht verlangte und die Spoletaner allerlei Ausflüchte machten, dass er noch zorniger wurde als in Rom und ein Gemetzel veranstaltete, mit dem verglichen das hier in Konstantinopel bloß ein Kinderspiel ist ... Du musst verstehen, Kyrios Niketas, ein Herrscher muss als Herrscher auftreten, ohne seine Gefühle zu schonen ... Ich habe viel gelernt in jenen Monaten, nach Spoleto kam die Begegnung mit den Gesandten aus Byzanz in Ancona, dann die Rückkehr nach Oberitalien, das sogenannte Italia ulterior , bis hinauf zu den Hängen der Alpen, die Otto Pyrenäen nannte, und es war das erste Mal, dass ich die Gipfel der Berge schneebedeckt sah. Und derweil führte mich, Tag für Tag, der Kanonikus Rahewin in die Kunst des Schreibens ein.«
»Muss hart gewesen sein für einen Jungen ...«
»Nein, hart war es nicht. Sicher, wenn ich etwas nicht verstand, gab mir der Kanonikus eine Kopfnuss, was mir jedoch nach den Schlägen meines Vaters nicht so viel ausmachte, aber sonst hingen mir alle an den Lippen. Wenn es mir zum Beispiel in den Sinn kam zu sagen, ich hätte eine Sirene im Meer gesehen – nachdem der Kaiser mich eingeführt hatte als einen, der Heilige sah –, dann glaubten mir alle und sagten bravo, bravo ...«
»Das wird dich gelehrt haben, deine Worte zu wägen.«
»Im Gegenteil, es hat mich gelehrt, sie überhaupt nicht zu wägen. Ich bildete mir langsam ein: Was immer ich sage, ist wahr, weil ich es gesagt habe ... Als wir nach Rom zogen, erzählte mir ein Priester namens Konrad von den mirabilia jener Stadt, von den sieben Automaten des Kapitols, die für die sieben Tage der Woche standen und jeder mit einem Glöckchen jeden Aufstand in einer Provinz des Reiches meldeten, oder von den Bronzestatuen, die sich von selber bewegten, oder von einem Palast voller Zauberspiegel ... Dann kamen wir nach Rom, und an dem Tag, als sie das Gemetzel am Ufer des Tibers machten, bin ich frühmorgens losgezogen und kreuz und quer durch die Stadt gewandert. Und ob du's glaubst oder nicht, ich habe bloß Schafherden zwischen antiken Ruinen gesehen und unter den Torbögen Leute, die sich in der Sprache der Juden unterhielten und Fisch verkauften, aber mirabilia habe ich keine gesehen, außer einer Reiterstatue im Lateran, aber auch die ist mir nicht besonders großartig vorgekommen. Doch als wir dann auf dem Rückweg waren und ich von allen gefragt wurde, was ich gesehen hätte – konnte ich da etwa sagen, in Rom gäb's nur Schafe zwischen Ruinen und Ruinen zwischen Schafen? Man hätte mir nicht geglaubt. So habe ich von den mirabilia erzählt, von denen mir erzählt worden war, und habe noch ein paar hinzugefügt, zum Beispiel, dass ich im Lateranpalast einen goldenen und mit Diamanten besetzten Reliquienschrein gesehen hätte, in dem der Nabel und die Vorhaut Unseres Herrn gewesen seien. Alle hingen mir an den Lippen und sagten ein ums andere Mal, wie schade, dass wir an jenem Tag die Römer abschlachten mussten und all diese mirabilia nicht sehen konnten! Nicht anders ist es mir auch später ergangen, in all diesen Jahren habe immer wieder von den Wundern Roms fabulieren hören, in Deutschland und in Burgund und sogar hier in Konstantinopel, bloß weil ich von ihnen gesprochen hatte.«
Inzwischen waren die Genueser zurückgekommen, gekleidet als Mönche, die Glöckchen läutend vor einer Schar düsterer, von Kopf bis Fuß in schmutzig weiße Lumpen gehüllter Gestalten einhergingen. Es war die Familie des Herrn Niketas, seine schwangere Frau mit dem Jüngsten auf dem Arm und die übrigen Söhne und Töchter, höchst anmutige junge Mädchen, eine Reihe weiterer Angehöriger und ein paar Diener. Die Genueser hatten sie durch die Stadt geführt, als wären sie eine Schar von Leprakranken, und sogar die Kreuzpilger waren bei ihrem Anblick rasch zur Seite gewichen.
»Wie haben sie euch bloß ernst nehmen können?« fragte Baudolino lachend. »Bei den Leprakranken kann ich es ja noch verstehen, aber ihr seht nun wirklich nicht gerade wie Mönche aus!«
»Mit allem Respekt, diese Kreuzpilger sind eine Bande von Einfaltspinseln«, sagte Taraburlo. »Im übrigen, nachdem wir nun schon so lange hier leben, haben auch wir ein bisschen Griechisch gelernt. Wir haben unterwegs immerzu Kyrieleison pighé pighé vor uns hin gemurmelt, im Singsang, als wär's eine Litanei, und da sind sie beiseite gesprungen, die einen haben sich bekreuzigt, andere haben uns zwei gestreckte Finger entgegengehalten, und wieder andere
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