Die historischen Romane
Der Kaiser umarmte ihn, entschuldigte sich für seinen Wutausbruch und sagte, dass er den hundert Speichelleckern, die er um sich habe, einen Sohn wie ihn vorziehe, der sich traue, es ihm zu sagen, wenn er sich irre. »Nicht einmal mein Beichtvater hat den Mut dazu«, gestand er ihm lächelnd. »Du bist der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe.«
Baudolino begann seine Schuld dadurch abzuzahlen, dass er vor Scham verging.
10. Kapitel
Baudolino findet die Könige aus
dem Morgenland und lässt
Karl den Großen heiligsprechen
Baudolino war vor den Mauern Mailands eingetroffen, als die Mailänder der Belagerung nicht mehr standhalten konnten, auch ihrer inneren Zwietracht wegen. Am Ende hatten sie Parlamentäre geschickt, um die Kapitulation auszuhandeln, und die Bedingungen waren dieselben wie jene, die auf dem Reichstag in Roncaglia festgelegt worden waren; mit anderen Worten, vier Jahre später, trotz aller Toten und Verwüstungen, war es noch genauso wie vorher. Oder besser gesagt, es war eine noch schmählichere Kapitulation als die vorangegangene. Friedrich hätte den Besiegten auch diesmal gerne großmütig verziehen, aber Rainald blies gnadenlos ins Feuer. Man müsse den Mailändern eine Lektion erteilen, die allen in Erinnerung bleiben würde, und man müsse diejenigen Städte zufriedenstellen, die sich auf die Seite des Kaisers gestellt hatten, nicht aus Liebe zu ihm, sondern aus Hass auf Mailand.
»Baudolino«, sagte der Kaiser zu seinem Adoptivsohn, »bitte schilt mich diesmal nicht. Manchmal muss auch ein Kaiser tun, was seine Berater wollen.« Und leise fügte er hinzu: »Dieser Rainald macht mir mehr Angst als die Mailänder.«
So hatte er angeordnet, dass alle Bewohner die Stadt verlassen mussten, Männer, Frauen und Kinder, und dass Mailand dem Erdboden gleichgemacht werde.
Die Lager rings um die Stadt wimmelten nun von Mailändern, die ziellos umherliefen, einige hatten sich in die Nachbarstädte geflüchtet, andere blieben draußen vor den Mauern in der Hoffnung, dass der Kaiser ihnen vergeben und sie wieder hineinlassen werde. Es regnete, die Flüchtlinge zitterten nachts vor Kälte, die Kinder wurden krank, die Frauen weinten, die Männer hockten, nun entwaffnet, niedergeschlagen an den Straßenrändern und reckten die Fäuste zum Himmel, denn es war jetzt empfehlenswerter, den Allmächtigen zu verfluchen, als den Kaiser, dessen Männer umhergingen und sich nach dem Grund der allzu lauten Klagen erkundigten.
Zuerst hatte Friedrich versucht, die rebellische Stadt durch Anzünden zu vernichten, dann hielt er es für besser, die Sache den Italienern zu überlassen, die Mailand heftiger hassten als er. Den Lodianern übertrug er die Zerstörung der Porta Orientale, die damals Porta Renza genannt wurde, den Cremonesern die Schleifung der Porta Romana, den Pavesanern die Stein-für-Stein-Abtragung der Porta Ticinese, den Novaresern die Einebnung der Porta Vercellina, denen aus Como die restlose Beseitigung der Porta Comacina und denen aus dem Seprio und der Martesana die Verwandlung der Porta Nuova in eine Ruine. Lauter Aufgaben, die von den Bürgern jener Städte mit Vergnügen erfüllt wurden, hatten sie doch dem Kaiser sogar viel Geld für das Privileg bezahlt, ihre Abrechnung mit dem besiegten Mailand eigenhändig vornehmen zu dürfen.
Am Tag nach Beginn der Demolierungsarbeiten machte Baudolino einen Erkundungsgang durch die Stadt. An manchen Stellen sah man nichts als eine große Staubwolke. Drang man in diese Staubwolke ein, entdeckte man da und dort Grüppchen von Leuten, die emsig bei der Arbeit waren – hier einige, die eine Fassade mit dicken Seilen umwanden und gemeinsam daran zogen, bis sie zusammenbrach, dort andere Abbruchexperten, die das Dach einer Kirche mit Spitzhacken bearbeiteten, bis es abgedeckt war, und die dann mit Rammböcken auf die Mauern losgingen oder Säulen zu Fall brachten, indem sie Keile unter die Sockel trieben.
Baudolino verbrachte ein paar Tage damit, durch die verwüsteten Straßen zu laufen. Er sah den Campanile der größten Kirche einstürzen, einen schöneren und mächtigeren gab es in ganz Italien nicht. Am eifrigsten waren die Lodianer, die nichts anderes ersehnten, als endlich Rache zu nehmen: Sie hatten als erste ihre Zerstörungsaufgabe erledigt und eilten dann zu den Cremonesern, um ihnen beim Niederreißen der Porta Romana zu helfen. Die Pavesaner schienen jedoch die besten Experten zu sein, sie schlugen nicht einfach wahllos zu,
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