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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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zwei Schritte vor ihr saß, rang schwitzend die Hände, sagte sich, dass er ein Narr sei, dass sie ihn gleich hinausjagen und ihre Wachen rufen würde, und wünschte, er hätte einen Dolch, um ihn sich ins Herz zu stoßen. Beatrix fuhr fort zu lesen, und ihre Wangen röteten sich immer mehr, ihre Stimme zitterte, während sie jene feurigen Worte buchstabierte, als zelebrierte sie eine blasphemische Messe. Sie erhob sich, schien mindestens zweimal zu wanken, wies mindestens zweimal Baudolinos Hilfe zurück, als er vorsprang, um sie zu halten, und sagte dann mit schwacher Stimme: »O Junge, Junge, was hast du getan!«
    Baudolino näherte sich ihr erneut, um ihr zitternd die Briefe aus der Hand zu nehmen, sie streckte am ganzen Leibe zitternd die Hand vor, um ihm den Nacken zu streicheln, er drehte den Kopf zur Seite, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen, sie fuhr ihm sanft mit den Fingerspitzen über die Narbe. Um auch dieser Berührung auszuweichen, drehte er von neuem den Kopf, aber sie war ihm inzwischen zu nahe gekommen, und so fanden sie sich unversehens Nase an Nase. Baudolino verschränkte die Hände auf dem Rücken, um sich eine Umarmung zu verbieten, aber inzwischen berührten sich ihre Lippen, und nachdem sie sich berührt hatten, öffneten sie sich ein bisschen, so dass für einen Moment, nur einen der wenigen Momente, die dieser Kuss dauerte, durch ihre halbgeöffneten Lippen auch ihre Zungen einander berührten.
    Als diese blitzartige Ewigkeit vorüber war, wich Beatrix zurück, nun weiß wie eine Kranke, sah Baudolino streng in die Augen und sagte: »Bei allen Heiligen des Paradieses, tu nie wieder, was du da getan hast!«
    Sie hatte das ohne Zorn gesagt, fast gefühllos, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht. Dann wurden ihre Augen feucht, und sie fügte sanft hinzu: »Ich bitte dich.«
    Baudolino fiel auf die Knie und berührte fast mit der Stirn den Boden, dann stürzte er Hals über Kopf hinaus, ohne zu wissen, wohin er lief. Später machte er sich klar, dass er in einem einzigen Augenblick vier Verbrechen begangen hatte: Er hatte die Majestät der Kaiserin beleidigt, er hatte sich mit Ehebruch befleckt, er hatte das Vertrauen seines Vaters verraten, und er hatte der infamen Versuchung zur Rache nachgegeben. Rache, denn hätte ich – fragte er sich –, wenn Friedrich jenes Gemetzel nicht begangen, er mich also nicht beschimpft und ich keinen Hass auf ihn verspürt hätte, gleichfalls getan, was ich getan habe? Während er noch versuchte, der Antwort auf diese Frage auszuweichen, machte er sich bewusst, dass er, wenn die Antwort diejenige wäre, die er befürchtete, die fünfte und schrecklichste seiner Sünden begangen hätte: Er hätte die Tugend seines Idols unabwaschbar befleckt, nur um seinen Groll auf Friedrich zu befriedigen, er hätte das, was der Zweck seines Daseins geworden war, in ein schnödes Mittel verwandelt.
     
    »Kyrios Niketas, dieser Verdacht hat mich viele Jahre lang begleitet, auch wenn ich die herzzerreißende Schönheit jenes Augenblicks nicht vergessen konnte. Ich war immer verliebter, aber diesmal hatte ich keinerlei Hoffnung mehr, nicht einmal im Traum. Denn wenn ich irgendeine Vergebung haben wollte, musste ihr Bild auch aus meinen Träumen verschwinden. Im Grunde, sagte ich mir während vieler langer schlafloser Nächte, im Grunde habe ich alles gehabt und kann nichts anderes mehr wollen.«
    Die Nacht sank auf Konstantinopel herab, und der Himmel war nicht mehr gerötet. Der Brand erlosch allmählich, und nur auf einigen Hügeln der Stadt sah man noch Reste glimmen. Niketas hatte unterdessen zwei Kelche mit Honigwein bestellt. Baudolino nahm einen Schluck, während er ins Leere starrte. »Das ist Wein aus Thasos. Zuerst gibt man eine Paste aus honiggetränktem Emmer in den Krug, dann mischt man einen starken würzigen Wein mit einem delikateren. Der Geschmack ist süß, nicht wahr?« fragte Niketas. »Ja, sehr«, antwortete Baudolino, der an andere Dinge zu denken schien. Dann stellte er den Kelch ab.
    »An jenem selben Abend«, schloss er, »habe ich für immer darauf verzichtet, ein Urteil über Friedrich zu fällen, denn ich fühlte mich ihm gegenüber schuldig. Was ist schlimmer: einem Feind die Nase abzuschneiden oder die Frau deines Wohltäters auf den Mund zu küssen?«
     
    Am nächsten Tag ging er zu seinem Adoptivvater, um ihn um Vergebung für seine harten Worte zu bitten, und errötete, als er merkte, dass Friedrich es war, der Gewissensbisse empfand.

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