Die historischen Romane
sondern beherrschten ihre Wut: Sie kratzten den Mörtel zwischen den Steinen heraus oder untergruben die Basis der Mauern, so dass der Rest von selber einstürzte.
Kurzum, wer nicht begriff, was da geschah, konnte Mailand für eine fröhliche Baustelle halten, wo jeder fleißig arbeitete mit einem Lied zum Lobe des Herrn auf den Lippen. Nur dass es war, als liefe die Zeit zurück: Es schien, als erhöbe sich aus dem Nichts eine neue Stadt, und in Wahrheit sank eine alte Stadt in Schutt und Staub. Mit diesen Gedanken im Kopf beeilte sich Baudolino am Ostersonntag, als der Kaiser große Festlichkeiten in Pavia anberaumt hatte, die mirabilia urbis Mediolani zu entdecken, solange noch etwas von Mailand da war. So kam es, dass er nach einer Weile auf eine wunderschöne, noch unversehrte Basilika stieß, in deren Nähe gerade einige Pavesaner unermüdlich, wiewohl es ein verordneter Feiertag war, den Abriss eines Stadtpalastes beendeten. Von ihnen erfuhr er, dass es die Basilika des Sankt Eustorgius sei und dass sie am nächsten Tag drankommen werde. »Sie ist viel zu schön, um stehen gelassen zu werden, findest du nicht?« sagte verständnisinnig einer der Demolierer.
Baudolino trat in das Kirchenschiff, in dem es kühl, still und leer war. Jemand hatte bereits die Altäre und die Seitenkapellen geplündert, einige Hunde, die wer weiß woher gekommen waren, hatten den Ort einladend gefunden und durch Bepinkeln der Säulen zu ihrer Bleibe gemacht. Vom Hauptaltar ertönte ein klagendes Muhen. Es war eine schöne Kuh, und Baudolino fragte sich bei ihrem Anblick, was für ein Hass die Zerstörer Mailands beseelen musste, dass sie selbst eine so appetitliche Beute verschmähten, nur um die Stadt so schnell wie möglich dem Erdboden gleichzumachen.
In einer Seitenkapelle vor einem Steinsarkophag erblickte er einen alten Pfarrer, der verzweifelt schluchzte oder eher winselte wie ein verwundetes Tier; sein Gesicht war weißer als das Weiß seiner Augen, und sein spindeldürrer Körper zuckte bei jedem Laut. Baudolino wollte ihm irgendwie helfen und reichte ihm eine Wasserflasche, die er bei sich trug. »Danke, guter Christ«, sagte der Alte, »aber mir bleibt nur noch, auf den Tod zu warten.«
»Sie werden dich nicht töten«, sagte Baudolino, »die Belagerung ist vorbei, der Friede besiegelt, die da draußen wollen nur deine Kirche zerstören, nicht dir das Leben nehmen.«
»Und was ist mein Leben ohne meine Kirche? Aber ich weiß schon, das ist die gerechte Strafe des Himmels, denn ich habe aus Ehrgeiz vor vielen Jahren gewollt, dass meine Kirche die schönste und berühmteste von allen sein sollte, und habe eine Sünde begangen.«
Welche Sünde konnte dieser arme Alte schon begangen haben? Baudolino fragte es ihn.
»Vor vielen Jahren hat mir ein orientalischer Reisender die prächtigsten Reliquien der Christenheit zum Kauf angeboten: die unversehrten Leiber der drei Magier aus dem Morgenland.«
»Die drei Magierkönige? Alle drei? Unversehrt?«
»Drei Magier, unversehrt. Sie schienen zu leben, ich meine, sie schienen gerade erst gestorben zu sein. Ich wusste, dass es nicht wahr sein konnte, denn von den Magiern spricht nur ein Evangelium, das des Matthäus, und es sagt nur sehr wenig über sie. Es sagt nicht, wie viele sie waren, woher sie kamen, ob sie Könige oder Weise waren ... Es sagt nur, dass sie nach Jerusalem kamen, indem sie einem Stern folgten. Kein Christenmensch weiß, woher sie stammten und wohin sie zurückgekehrt sind. Wer hätte ihr Grab finden können? Deswegen habe ich den Mailändern nie zu sagen gewagt, dass ich diesen Schatz besaß. Ich fürchtete, sie würden ihn aus Habgier dazu benutzen, die Gläubigen ganz Italiens herzulocken, um mit einer falschen Reliquie Geld zu verdienen ...«
»Also hast du nicht gesündigt.«
»Ich habe gesündigt, denn ich habe sie an diesem geweihten Ort verborgen gehalten. Ich habe immer auf ein Zeichen des Himmels gewartet, aber es ist nicht gekommen. Jetzt will ich nicht, dass diese Vandalen sie finden. Sie könnten die drei sterblichen Hüllen unter sich aufteilen, um einige dieser Städte, die uns heute zerstören, mit einer überragenden Würde auszustatten. Ich bitte dich, mach, dass alle Spuren meiner einstigen Schwäche verschwinden. Such dir Helfer, komm heute Abend, um diese zweifelhaften Reliquien fortzuschaffen und verschwinden zu lassen. Mit ein wenig Mühe sicherst du dir dadurch das Paradies, das ist doch nicht wenig.«
»Siehst du, Kyrios
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