Die historischen Romane
»ich werde doch wohl jetzt nicht sterben? Heißt es doch, dass man sich nur im Moment des Todes so gut an die Dinge der Kindheit erinnert ...«
Es war der Weihnachtsabend, aber das wusste Baudolino nicht, denn im Laufe seiner Reise hatte er aufgehört, die Tage zu zählen. Er zitterte vor Kälte auf seinem steifbeinig staksenden Muli, aber der Himmel war klar im Licht der untergehenden Sonne und sauber, wie wenn es bereits nach Schnee riecht. Er erkannte die Orte wieder, als ob er gerade erst gestern vorbeigekommen wäre, er erinnerte sich, wie er mit seinem Vater auf diese Hügel gestiegen war, um drei Mulis abzuliefern, mühsam steile Hänge hinauf, die schon von sich aus die Beine eines Jungen erlahmen lassen konnten, wie also erst, wenn er auch noch störrische Tiere hinauftreiben musste. Aber den Rückweg hatten sie genossen, von oben auf die Ebene blickend und frei den Hang hinuntertänzelnd. Baudolino erinnerte sich, dass die Ebene sich unweit des Flusses ein Stück weit zu einem Buckel aufwarf, von dessen Höhe herab er damals aus einer milchigen Schicht die Kirchtürme einiger Dörfer auftauchen sah, längs des Flusses, wo Bergoglio und Roboreto lagen und weiter hinten Gamondio, Marengo und die Palea, das heißt jenes Sumpfgebiet aus Tümpeln, Schotter und Buschwald, an dessen Rand vielleicht noch immer die Hütte des guten Gagliaudo stand.
Doch als er nun auf dem Buckel ankam, sah er ein anderes Panorama, als wäre die Luft ringsum, auf den Hügeln und in den anderen Tälern glasklar und nur in der Ebene vor ihm getrübt von Nebelschwaden, von jenen grauweißen Wolkenballen, die dem Wanderer plötzlich entgegenkommen, ihn völlig einhüllen, so dass er nichts mehr sieht, und dann weiterziehen und verschwinden, wie sie gekommen sind – so dass Baudolino sich sagte, siehst du, ringsum kann auch August sein, aber in der Frascheta herrscht ewiger Nebel, so wie der ewige Schnee auf den Alpengipfeln –, aber das missfiel ihm nicht, denn wer im Nebel geboren ist, findet sich immer darin zurecht wie bei sich zu Hause. Doch während er zum Fluss hinunterritt, wurde ihm zunehmend klar, dass jene Schwaden kein Nebel waren, sondern Rauch, durch den da und dort auch die Feuer durchschimmerten, die ihn nährten. Zwischen Rauch und Feuern erkannte Baudolino dann langsam, dass in der Ebene jenseits des Flusses, rings um das, was früher einmal Roboreto gewesen sein musste, das Dorf ins Land hinausgewuchert war. Überall standen Grüppchen von neuen Häusern, einige aus Stein und andere aus Holz, viele erst halbfertig, und im Westen erkannte man sogar den Anfang einer Stadtmauer, was es in dieser Gegend noch nie gegeben hatte. Und über den Feuern hingen Kessel, vielleicht wurde darin Wasser abgekocht, damit es nicht sofort gefror, während weiter drüben andere damit beschäftigt waren, es in Gräben voller Kalk oder Mörtel zu gießen. Kurzum (Baudolino hatte die Baustelle der neuen Kathedrale in Paris gesehen, auf der Insel im Fluss, und er kannte die Gerätschaften und Gerüste, mit denen die Maurermeister arbeiteten), nach allem, was er von einer Stadt wusste, waren die dort unten dabei, eine zu bauen, und es war ein Schauspiel, wie man es bestenfalls einmal im Leben sieht, und das war's dann.
»Tzz, tzz«, sagte er sich, »du schaust bloß mal einen Augenblick weg, und schon haben sie wieder was angestellt!« Er gab seinem Muli die Sporen, um rasch ins Tal hinunterzugelangen, und nachdem er den Tanaro auf einem Floß überquert hatte, das Steine jeder Art und Größe hinüberbrachte, hielt er an einer Stelle an, wo einige Arbeiter auf einem wackligen Gerüst dabei waren, eine Mauer hochzuziehen, während andere am Boden mit einer Seilwinde Körbe voller Gestein und Schotter zu ihnen hinaufkurbelten. Die Seilwinde konnte man sich allerdings primitiver nicht vorstellen, sie bestand eher aus dünnen Stangen als aus robusten Pfählen, so dass sie immer wieder ins Wanken geriet, und die beiden Männer, die sie am Boden drehten, schienen mehr damit beschäftigt, dieses gefährliche Schwanken zu bekämpfen, als das Seil aufzuwickeln. Baudolinos erster Gedanke war: Da sieht man's wieder, wenn die Leute aus dieser Gegend was machen, dann machen sie's entweder schlecht oder noch schlechter, nun sieh dir bloß mal an, wie die arbeiten, wenn ich hier der Meister wäre, ich hätte sie längst allesamt am Hosenboden gepackt und in den Tanaro geworfen!
Aber dann sah er ein Stück weiter hinten einen anderen Trupp, der sich
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