Die historischen Romane
durften.
»Ich glaube, wer das liest«, sagte Rabbi Solomon am Ende, »wird sich fragen, warum ein so mächtiger König sich lediglich Priester nennen lässt.«
»Richtig, und das bringt uns zum Schluss«, sagte Baudolino. »Schreib, Abdul ...«
Warum, o geliebter Friedrich, sich Unsere Erhabenheit nicht einen würdigeren Titel als den des Presbyters gestattet, ist eine Frage, die Deiner Klugheit Ehre macht. Gewiss haben Wir an Unserem Hofe Ministerialen, die mit viel höheren Titeln und Ämtern versehen sind, besonders was die kirchliche Hierarchie betrifft ... Unser Truchsess ist Primas und König, Unser Mundschenk König und Erzbischof, Unser Kämmerer Bischof und König, Unser Seneschall König und Archimandrit, Unser Küchenmeister König und Abt. Daher hat Unsere Hoheit, da sie es nicht ertragen konnte, mit den nämlichen Titeln und Würden bezeichnet zu werden, von denen Unser Hof überfließt, aus Demut beschlossen, einen geringeren Titel und niedrigeren Rang zu führen. Für den Augenblick mag es Dir genügen zu wissen, dass Unser Reich sich auf der einen Seite über vier Monate Fußmarsch erstreckt und auf der anderen so weit, dass niemand weiß, wo es endet. Könntest Du die Sterne am Himmel zählen und die Sandkörner am Meer, so könntest Du Unsere Besitztümer und Unsere Macht ermessen.
Es wurde schon fast hell, als unsere Freunde den Brief beendeten. Die vom Honig genommen hatten, befanden sich noch in einem Zustand lächelnden Staunens, die nur Wein getrunken hatten, waren beschwipst, der Poet, der sich beides genehmigt hatte, konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Singend torkelten sie durch die Gassen und Straßen, zeigten einander voller Ehrfurcht das Pergament und glaubten inzwischen fest, dass es soeben aus dem Reich des Priesters Johannes eingetroffen sei.
»Hast du es gleich an Rainald geschickt?« fragte Niketas.
»Nein. Nach der Abreise des Poeten haben wir es monatelang immer wieder gelesen und überarbeitet, einzelne Stellen abgeschabt und neu geschrieben. Immer wieder schlug jemand irgendeine Ergänzung vor.«
»Aber Rainald wartete doch sicher auf den Brief, oder?«
»Die Sache war die, dass Rainald inzwischen seines Postens als Reichskanzler enthoben und durch den Mainzer Erzbischof Christian von Buch ersetzt worden war. Gewiss war Rainald in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Köln auch Erzkanzler von Italien und noch immer sehr mächtig, was man unter anderem auch daran sah, dass er es war, der die Heiligsprechung Karls des Großen in Aachen organisiert hatte, aber diese Auswechslung bedeutete, zumindest in meinen Augen, dass Friedrich begonnen hatte, Herrn Rainald als zu aufdringlich zu empfinden. Wie also konnten wir dem Kaiser einen Brief präsentieren, der im Grunde von Rainald gewünscht worden war? Ich habe vergessen zu sagen, dass in jenem selben Jahr der Heiligsprechung die Kaiserin Beatrix einen zweiten Sohn geboren hatte und der Kaiser daher an anderes dachte, auch weil, wie man hörte, sein erster Sohn ständig krank war. So verging alles in allem mehr als ein Jahr.«
»Hat Rainald euch nicht gedrängt?«
»Zuerst hatte er anderes im Kopf. Dann starb er. Während Friedrich in Rom war, um Alexander III. zu vertreiben und seinen Gegenpapst auf den Thron zu setzen, brach dort eine Pestseuche aus, und die Pest rafft Arm und Reich dahin. Auch Rainald starb. Ich war erschüttert, obwohl ich ihn nie wirklich gemocht hatte. Er war arrogant und nachtragend, doch er war ein kühner Mann gewesen und hatte sich bis zum Ende für seinen Herrn geschlagen. Friede seiner Seele. Aber hatte nun, ohne ihn, unser Brief noch einen Sinn? Er wäre als einziger schlau genug gewesen, ihn sich zunutze zu machen, indem er ihn in den Kanzleien der ganzen christlichen Welt zirkulieren ließ.«
Baudolino machte eine Pause. »Und dann war da auch noch die Geschichte mit meiner Stadt.«
»Welcher Stadt? Bist du nicht in einem Sumpf geboren?«
»Stimmt, ich gehe zu schnell vor. Wir müssen erst noch meine Stadt erbauen.«
»Endlich erzählst du mal nicht von einer zerstörten Stadt!«
»Ja«, sagte Baudolino, »es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich eine Stadt entstehen und nicht untergehen sah.«
13. Kapitel
Baudolino sieht eine neue Stadt entstehen
Seit zehn Jahren lebte Baudolino nun in Paris, er hatte alles gelesen, was man lesen konnte, er hatte Griechisch gelernt von einer byzantinischen Prostituierten, er hatte Gedichte und
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