Die historischen Romane
unserer Mitte hatten, war er auf freiem Fuß, aber wenn wir ihn allein ließen, wurde er ans Bett gefesselt, an einen Pfahl, einen Baum, je nachdem, wo wir uns gerade befanden, und wenn wir ritten, war er so mit den Zügeln verbunden, dass, falls er abzusteigen versuchte, sein Pferd scheuen und mit ihm durchgehen würde. Da ich befürchtete, dass auch dies nicht genügte, um ihn an seine Pflichten zu erinnern, gab ich ihm jeden Abend vor dem Einschlafen eine Ohrfeige. Er wusste es immer schon und wartete darauf, bevor er einschlief, wie auf den mütterlichen Gutenachtkuss.«
Während der Reise hatten unsere Freunde nicht aufgehört, Zosimos zu einer Rekonstruktion der Karte zu drängen, und er hatte guten Willen gezeigt, indem er sich jeden Tag an eine weitere Einzelheit erinnerte. Einmal ging er sogar daran, die wahren Entfernungen zu berechnen.
»So über den Daumen gepeilt«, sagte er, wobei er die Wegstrecken mit dem Finger in den Straßenstaub zeichnete, »sind es von Tzinistan, dem Land der Seide, bis nach Persien hundertfünfzig Tagesmärsche, ganz Persien macht achtzig, von der persischen Grenze nach Seleukia dreizehn, von Seleukia nach Rom und dann ins Land der Iberer hundertfünfzig. Also von einem Ende der Welt zum anderen aufgerundet vierhundert Tagesmärsche, wenn du dreißig Meilen am Tag gehst. Sodann ist die Erde länger als breit – du wirst dich erinnern, dass es im Exodus heißt, der Tisch im Tabernaculum soll zwei Ellen lang und eine breit sein. Also kannst du von Norden nach Süden erstmal fünfzig Tagesmärsche in den nördlichen Regionen bis Konstantinopel rechnen, dann von Konstantinopel bis nach Alexandria in Ägypten weitere fünfzig und von Alexandria bis nach Äthiopien am Arabischen Golf siebzig Tage. Macht zusammen aufgerundet zweihundert Tage. Also wenn du von Konstantinopel zum äußersten Indien aufbrichst und dabei rechnest, dass du nicht immer geradeaus gehst und oft anhalten musst, um den Weg zu suchen, und wer weiß, wie oft du dabei zurückgehen musst – also ich würde sagen, da brauchst du bis zum Priester Johannes rund ein Jahr.«
Was Reliquien anbelangte, wollte Kyot von Zosimos wissen, ob er schon mal vom Gradal gehört habe. Sicher, das habe er, sagte Zosimos, und zwar von den Galatern, die rings um Konstantinopel lebten, also von Leuten, die seit jeher die Erzählungen der ältesten Priester des äußersten Nordens kannten. Kyot fragte ihn weiter, ob er auch von jenem Feirefiz gehört habe, der den Gradal zum Priester Johannes gebracht haben soll, und Zosimos sagte, gewiss, auch von dem habe er schon gehört, aber Baudolino blieb skeptisch. »Und was ist dann dieser Gradal?« fragte er ihn. »Na, der Kelch, der Kelch, in dem Christus das Brot und den Wein verwandelt hat, das habt ihr doch auch gesagt.« Brot in einem Kelch? Nein, nur den Wein, das Brot lag auf einem Teller, einem Hostienteller, einem kleinen Tablett. Aber was war dann der Gradal, der Teller oder der Kelch? Beides, versuchte sich Zosimos rauszuwinden. Wenn man es recht bedenke, legte ihm der Poet mit einem drohenden Blick nahe, war der Gradal die Lanze, die Longinus dem Gekreuzigten in die Seite gestochen habe. Ja genau, das scheine ihm auch so, pflichtete Zosimos bei. An diesem Punkt gab ihm Baudolino eine Ohrfeige, obschon es noch nicht Zeit zum Schlafengehen war, aber Zosimos rechtfertigte sich: Die Gerüchte seien ungewiss, zugegeben, aber dass sie auch bei den Galatern von Byzanz umgingen, beweise, dass es diesen Gradal wirklich gebe. Im übrigen wisse man vom Gradal am Ende immer dasselbe, nämlich dass man ziemlich wenig von ihm wisse.
»Sicher«, sagte Baudolino, »wenn ich Friedrich den Gradal bringen könnte, statt so einen Galgenstrick wie dich ...«
»Du kannst ihn ihm immer noch bringen«, regte Zosimos an. »Finde den passenden Topf ...«
»Aha, jetzt ist er also auch ein Topf! Pass auf, dass ich dich nicht in diesem Topf koche! Ich bin doch kein Fälscher wie du!« Zosimos zuckte die Achseln und strich sich übers Kinn, wo er den nachwachsenden Bart fühlte, der aber nun struppig wie ein Katzenfisch war und nicht mehr so schön anzusehen wie einst, als er seidig und sauber glänzte wie eine Palla.
»Und außerdem«, knurrte Baudolino, »auch wenn man weiß, dass er ein Topf oder Kelch ist, woran erkennt man ihn, wenn man ihn findet?«
»Ah, da sei nur ganz ruhig«, warf Kyot ein, den Blick verträumt in die Welt seiner Sagen gerichtet, »du wirst das Licht sehen, du wirst den
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