Die historischen Romane
einer Fliege was zuleide zu tun, an der Seite einer Frau, die eine Heilige war, und jetzt, wo ich beschlossen habe zu sterben, da sterbe ich. Lass mich gehen, wie ich will, und ich bin's zufrieden, denn wenn ich noch länger bleibe, wird's bloß noch schlimmer.«
Ab und zu trank er einen Schluck Wein, dann legte er sich zurück und schlief eine Weile, dann wachte er wieder auf und fragte: »Bin ich tot?« – »Nein, Vater«, antwortete Baudolino, »zum Glück lebst du noch.« – »Oh, ich armer Mann«, seufzte der Alte, »noch einen Tag! Aber morgen sterbe ich, sei ganz ruhig.« Er wollte keinen Happen anrühren.
Baudolino strich ihm über die Stirn und verjagte die Fliegen, und da er nicht wusste, wie er seinen sterbenden Vater trösten sollte, und ihm auch zeigen wollte, dass er nicht der Esel war, für den er ihn immer gehalten hatte, erzählte er ihm von der heiligen Unternehmung, auf die er sich seit wer weiß wie langer Zeit vorbereitete, und wie er zum Reich des Priesters Johannes gelangen wollte. »Denk nur«, sagte er, »ich werde wunderbare Orte entdecken. Es gibt einen Platz, wo ein nie gesehener Vogel gedeiht, der Vogel Phönix, der immer fünfhundert Jahre lang lebt und fliegt. Immer wenn fünfhundert Jahre vergangen sind, richten die Priester einen Altar her, auf den sie Spezereien und Schwefel streuen, und dann kommt der Vogel und verbrennt sich und wird zu Asche. Am nächsten Morgen liegt eine Raupe in der Asche, am übernächsten ist es schon ein kleiner Vogel, und am dritten Tag fliegt dieser Vogel weg. Er ist nicht größer als ein Adler, auf dem Kopf hat er einen Federbusch wie ein Pfau, der Hals ist goldfarben, der Schnabel indigoblau, die Flügel purpurrot und der Schwanz gelb, grün und rot gestreift. Und so stirbt der Phönix nie.«
»Alles Unsinn«, sagte Gagliaudo. »Mir würd's schon reichen, wenn du mir meine Rosina wiederauferstehen ließest, das arme Vieh, das ihr mir mit all dem verdorbenen Getreide erstickt habt. Das wär was anderes als dein Phönix!«
»Wenn ich wiederkomme, bringe ich dir das Manna mit, das auf den Bergen des Landes von Hiob zu finden ist. Es ist weiß und sehr süß, es kommt aus dem Tau, der vom Himmel auf die Gräser fällt und dort gerinnt. Es reinigt das Blut und vertreibt die Trübsal.«
»Alles Quatsch. Dummes Zeug, gut für diese Weichlinge am Hof, die Schnepfen und Mürbeteigkuchen essen.«
»Willst du nicht wenigstens ein Stück Brot?«
»Hab keine Zeit, muss morgen früh sterben.«
Am folgenden Morgen erzählte ihm Baudolino, dass er dem Kaiser den Gradal schenken werde, den Kelch, aus dem der Herr Jesus getrunken habe.
»Ach ja? Und woraus ist er?«
»Ganz aus Gold, besetzt mit Lapislazuli.«
»Da siehst du mal wieder, wie dumm du bist! Unser Herr Jesus war der Sohn eines Zimmermanns und lebte zusammen mit Hungerleidern, die noch ärmer waren als er. Sein ganzes Leben lang hat er dasselbe Gewand getragen, der Priester in der Kirche hat uns gesagt, dass es keine Nähte hatte, damit es nicht kaputtging, bevor er das dreiunddreißigste Jahr vollendet hatte, und jetzt kommst du daher und willst mir erzählen, dass er sich's gut gehen ließ mit einem Kelch aus Gold und Lapizzupappzuli! Was erzählst du mir da? Es wär schon viel gewesen, wenn er so eine Schale wie diese da gehabt hätte, die ihm sein Vater aus einer Wurzel geschnitzt haben könnte, wie ich's mir gemacht hab. So was hält ein Leben lang und zerbricht nicht mal, wenn du mit dem Hammer draufhaust, nein wirklich! Aber wo ich grad davon rede, gib mir nochmal ein bisschen was von diesem Blut Christi rüber, das ist das einzige, was einem hilft, auf gute Weise zu sterben.«
Bei allen Teufeln der Hölle! sagte sich Baudolino. Dieser arme Alte hat recht! Der Gradal muss eine Schale wie diese da gewesen sein! Schlicht, schmucklos, arm wie Unser Herr Jesus Christus. Darum ist er womöglich hier, in jedermanns Reichweite, und keiner hat ihn jemals erkannt, weil sie immer nach etwas Funkelndem und Glänzendem suchten!
Man soll nun jedoch nicht meinen, dass Baudolino in diesen Augenblicken immer nur an den Gradal gedacht hätte. Er wollte seinen Vater nicht sterben sehen, aber er hatte begriffen, dass er, wenn er ihn sterben ließ, seinem Willen entsprach. Nach einigen Tagen war der alte Gagliaudo zusammengeschrumpft wie eine trockene Kastanie, atmete nur noch mühsam und wollte nicht mal mehr einen Schluck Wein.
»Vater«, sagte Baudolino, »wenn du wirklich sterben willst, versöhne dich
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