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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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meine ferne Liebe gesehen;
    Doch weiß ich nicht, wann das je wird geschehen,
    Zu fern voneinander sind unsere Länder.
    So viele Häfen, so viele Wege,
    Drum kann ich es nicht erraten ...
    Doch alles geschehe nach Gottes Wille.
     
    Die Abkasianer, die bis dahin pausenlos überall ringsum gewispert hatten, waren verstummt. Still hatten sie Abduls Lied zugehört, dann versuchten sie ihm zu antworten: Aus hundert Lippen (waren es Lippen?) erklang ein Flöten und Zwitschern wie von Amseln, das die von Abdul gespielte Melodie wiederholte und variierte. So gelangten sie zu einer Verständigung ohne Worte mit ihren Gästen, und in den folgenden Nächten unterhielten sie sich miteinander, die einen singend und die anderen, als spielten sie auf Flöten. Einmal stimmte der Poet eines jener derben Tavernenlieder an, die in Paris sogar die Kellnerinnen erröten ließen, und Baudolino fiel mit ein. Die Abkasianer antworteten nicht, aber nach einer langen Stille begannen zwei oder drei von ihnen wieder, Abduls Melodien zu modulieren, als wollten sie sagen, diese sind schön und angenehm, nicht die anderen. Damit bekundeten sie, wie Abdul fand, echtes Zartgefühl und die Fähigkeit, gute von schlechter Musik zu unterscheiden.
    Als einziger von den Abkasianern ermächtigt, mit ihnen zu »sprechen«, fühlte sich Abdul wie neu geboren. Wir sind im Reich der Zärtlichkeit, sagte er, also nicht weit von meinem Ziel. Los, gehen wir hin! Nein, erwiderte der Boidi ganz verzaubert, warum bleiben wir nicht hier? Gibt es einen schöneren Platz auf der Welt als diesen, wo man, selbst wenn hier etwas hässlich ist, es nicht sieht?
    Auch Baudolino sagte sich, dass ihn, nachdem er so viele Dinge in der weiten Welt gesehen hatte, diese langen Tage im Dunkeln zur Ruhe gebracht, ja mit sich selbst versöhnt hatten. Im Dunkeln kehrte er zu seinen Erinnerungen zurück und dachte an seine Kindheit, an seinen Vater und seine Mutter, an die sanfte unglückliche Colandrina. Eines Abends (war es Abend? Ja, denn die Abkasianer schliefen still), als er keinen Schlaf fand, machte er ein paar Schritte und berührte mit den Händen die Blätter der Bäume, als ob er etwas suchte. Plötzlich stieß er auf eine Frucht, die sich weich anfühlte und köstlich duftete. Er brach sie ab und biss hinein, und sofort fühlte er sich von einem sehnsuchtsvollen Verlangen durchdrungen, so dass er nicht mehr wusste, ob er träumte oder wachte.
    Auf einmal sah er – oder besser, fühlte er ganz in der Nähe, als ob er sie sähe – Colandrina. »Baudolino, Baudolino«, rief sie mit mädchenhafter Stimme, »bleib nicht da, wo du bist, auch wenn dir da alles so schön vorkommt. Du musst zum Reich dieses Priesters, von dem du mir erzählt hast, und musst ihm diesen Kelch bringen, wer macht sonst unser Baudolinchen-Colandrinchen zum Herzog? Mach mich glücklich, hier oben geht's mir nicht schlecht, aber du fehlst mir so!«
    »Colandrina, Colandrina«, rief Baudolino oder glaubte er zu rufen, »sei still, du bist eine Larve, eine Täuschung, eine Frucht dieser Frucht! Die Toten kehren nicht zurück!«
    »Gewöhnlich nicht«, antwortete Colandrina, »aber ich hab so sehr gebettelt. Ich habe gesagt, ihr habt mir nur eine Jahreszeit mit meinem Mann gegeben, nur ein winziges Stückchen. Tut mir diesen kleinen Gefallen, wenn ihr ein Herz habt. Es geht mir gut hier oben, ich sehe die Madonna und alle Heiligen, aber mir fehlen die Liebkosungen meines Baudolino, der mich so schön gekitzelt hat. Da haben sie mir ein bisschen Zeit gegeben, gerade genug für ein Küsschen. Baudolino, gib dich auf der Reise nicht mit den Frauen ab, die du unterwegs triffst, sie haben womöglich schlimme Krankheiten. Nimm die Beine in die Hand und geh der Sonne entgegen.«
    Sie verschwand, während Baudolino eine weiche Berührung auf der Wange spürte. Er schüttelte seinen Wachtraum ab, legte sich wieder hin und schlief friedlich ein. Am nächsten Morgen sagte er zu seinen Gefährten, sie müssten weiterziehen.
    Noch viele weitere Tage vergingen, dann entdeckten sie einen Schimmer, einen milchigen Streifen am Horizont. Langsam verwandelte sich die Finsternis wieder in das Grau eines dichten gleichmäßigen Nebels. Sie wurden gewahr, dass die Abkasianer, die sie begleitet hatten, stehen geblieben waren und sich flötend und pfeifend von ihnen verabschiedeten. Offenbar waren sie am Rand einer Lichtung stehen geblieben, an der Grenze jener Helligkeit, die sie sicherlich fürchteten, und es hörte sich an,

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