Die historischen Romane
nach einem weiten Umweg, den sie hatten nehmen müssen, weil selbst das Ufer durch Geröllstrudel unpassierbar geworden war, sahen sie, als sie auf ein Hochplateau gelangten, wie sich der Sambatyon – unter ihnen – in eine Art Höllenschlund ergoss und verschwand.
Es waren Katarakte, die aus Dutzenden von amphitheaterförmig angeordneten Felsentraufen in einen gigantischen letzten Strudel stürzten, einen unaufhörlichen Wirbel von Granit, einen Mahlstrom von Bitumen, einen Sog von Alaun, ein Brodeln von Schist, ein Branden von Auripigment an die Ufer. Und über der Materie, die dieser Strudel zum Himmel spie, aber unten für die Augen derer, die auf das Schauspiel hinunterblickten wie hoch oben von einem Turm, erzeugten die Sonnenstrahlen auf den steinernen Tröpfchen einen riesigen Regenbogen, der, da jeder Stein die Strahlen mit einem anderen Glanz entsprechend seiner Natur zurückwarf, sehr viel mehr Farben aufwies als diejenigen, die sich gewöhnlich nach einem Gewitter am Himmel bilden, und im Unterschied zu jenen schien dieser in alle Ewigkeit zu glänzen, ohne sich jemals aufzulösen.
Es war ein Rotschimmern von Blutstein und Zinnober, ein Schwarzglänzen von Phosphat wie bei atramentiertem Stahl, ein Changieren von Auripigmentpartikeln von Gelb bis zu grellem Orange, ein Blaufunkeln von Armenium, ein Weißblinken von kalzinierten Muscheln, ein Grünleuchten von Malachiten, ein Verblassen von Bleioxyd in immer bleicheren Tönen, ein Gleißen von Realgarkristallen, ein Grummeln von gründunkler Erdkrume, die zu Blauspatpulver verblasste und dann zu Nuancen von Indigo und Violett überging, ein Triumph von Musivgold, ein Purpurglühen von gebranntem Bleiweiß, ein Flammen von miniumrotem Sandarak, ein Irisieren von Silbertonerde und eine einzige Transparenz von Alabastern.
Keine menschliche Stimme konnte sich in diesem donnernden Tosen Gehör verschaffen, aber die Reisenden hatten auch gar kein Verlangen zu reden. Schweigend wohnten sie der Agonie des Sambatyon bei, der sich, wütend über sein Los, ins Innere der Erde ergoss und alles mitzureißen versuchte, was ihn umgab, seine Steine fletschend, um seiner ganzen Ohnmacht Ausdruck zu verleihen.
Weder Baudolino noch seine Gefährten waren sich bewusst geworden, wie lange sie den heiligen Zorn bewundert hatten, mit dem sich der Fluss in die Eingeweide der Erde stürzte, um sich widerwillig darin zu begraben, aber sie mussten recht lange dort oben gestanden haben, und es musste schon Freitagabend geworden sein, also der Anfang des Sabbat, denn mit einem Mal, wie auf Kommando, erstarrte der steinerne Fluss zu einer Leichenstarre, und der Strudel am Grund der Schlucht verwandelte sich in ein träges steiniges Tal, über dem ganz plötzlich ein unheimliches Schweigen herrschte.
Nach dem, was ihnen erzählt worden war, erwarteten sie nun, dass sich am Ufer des Flusses eine Flammenwand erhob. Aber nichts dergleichen geschah. Der Fluss lag schweigend da, die aufgewirbelten Teilchen sanken langsam ins Flussbett nieder, der nächtliche Himmel klarte auf und enthüllte ein Blinken und Funkeln von Sternen, das bisher verborgen geblieben war.
»Da kann man mal sehen, dass man nicht immer alles glauben darf, was einem erzählt wird«, folgerte Baudolino. »Wir leben in einer Welt, in der sich die Leute die unwahrscheinlichsten Geschichten ausdenken. Solomon, diese hier habt ihr Juden in Umlauf gesetzt, um die Christen daran zu hindern, in diese Gegend zu kommen.«
Solomon antwortete nichts darauf, denn er war ein Mann von rascher Auffassungsgabe und hatte verstanden, wie Baudolino ihn über den Fluss zu bringen gedachte. »Ich werde nicht einschlafen«, sagte er rasch.
»Mach dir keine Sorge«, erwiderte Baudolino, »ruh dich aus, während wir eine Furt suchen.«
Solomon wäre gerne geflohen, aber am Sabbat konnte er weder ein Pferd besteigen noch gar zu Fuß durch die Berge entkommen. So blieb er die ganze Nacht lang sitzen, den Kopf in die Fäuste gestützt, und verfluchte zusammen mit seinem Los die verfluchten Gojim.
Am nächsten Morgen, als die anderen eine Stelle gefunden hatten, wo man den Fluss gefahrlos überqueren konnte, ging Baudolino zu Solomon, lächelte ihm verständnisvoll zu und schlug ihm mit einem Holzhammer direkt hinters Ohr.
Und so geschah es, dass Rabbi Solomon, als einziger unter allen Kindern Israel, im Schlaf den Sambatyon an einem Sabbat überquerte.
29. Kapitel
Baudolino kommt nach Pndapetzim
Den Sambatyon überquert zu
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