Die historischen Romane
sie behaupteten, auch Arbeit sei ein gutes Werk und darum unnütz. Sie lebten in größter Armut und ernährten sich von den Früchten jener Bäume, von denen sie sich ohne Scheu einfach nahmen, was sie brauchten, obwohl sie der ganzen Gemeinde gehörten.
»Sonst sind sie wie ihr, nicht wahr?« frotzelte der Poet.
»Wie wir, wenn nix sage.«
Die Berge rückten immer näher, und je näher sie kamen, desto besser erkannte man ihre Natur. Am Ende der steinigen Zone erhoben sich zahlreiche glatte gelbliche Kegel, die aussahen wie aus Schlagsahne, fand Colandrino, oder nein, wie aus Zuckerwatte, ach was, wie schmale Sandhaufen, dicht an dicht nebeneinandergesetzt wie die Bäume in einem Wald. Dahinter ragte auf, was aus der Ferne wie hochgereckte Finger ausgesehen hatte: eine Reihe von mächtigen Zinnen, die auf der Spitze etwas wie Hüte trugen, liegende Felsbrocken aus dunklerem Stein, bald in Form einer Kapuze, bald eher als flache Mütze, die vorne und hinten überstand. Beim Näherkommen erwiesen sich die Felsen als weniger spitz, aber jeder von ihnen erschien mit Löchern durchbohrt wie ein Bienenhaus, bis man begriff, dass diese Löcher Höhlen waren, in den Stein gehauene Wohnungen, zu denen man auf kleinen hölzernen Leitern gelangte, die sich von Absatz zu Absatz miteinander verbanden und an jedem dieser Kegel ein luftiges Netzwerk bildeten, auf dem die Bewohner, die von weitem wie Ameisen aussahen, behende auf und ab kletterten.
Im Zentrum der Stadt gab es richtige Häuser, ja mehrgeschossige Häuserzeilen, auch sie in den Felsen gehauen, aus dem nur einige obere Fassadenteile hervorsprangen. Weiter hinten erhob sich ein imposanteres Felsmassiv von unregelmäßiger Form, gleichfalls ein einziger Bienenstock voller Höhlen, aber mit eher geometrischen Öffnungen ähnlich Fenstern und Türen und in manchen Fällen mit kleinen Altanen, Logen oder Balkonen davor. Einige Öffnungen waren mit bunten Tüchern verhängt, andere mit geflochtenen Strohmatten. Kurzum, man befand sich inmitten einer ziemlich wilden Gebirgslandschaft und zugleich im Zentrum einer volkreichen und geschäftigen Stadt, auch wenn diese gewiss nicht so großartig war, wie unsere Reisenden sie erwartet hatten.
Dass die Stadt geschäftig und volkreich war, sah man an der Menge, die, man kann zwar nicht sagen: ihre Straßen und Plätze, aber die Räume zwischen Kegel und Klippe, Massiv und Zinne belebte. Es war eine bunte Menge, durchmischt mit Hunden, Eseln und vielen Kamelen, jenen Tieren, die unsere Freunde schon zu Beginn ihrer Reise gesehen hatten, aber noch nie in so großer Zahl und Vielfalt wie hier, manche mit einem Höcker, manche mit zweien und manche sogar mit dreien. Sie sahen auch einen Feuerschlucker, der sich vor einer Schar von Einwohnern produzierte und einen Panther an der Leine führte. Die Tiere, die sie am meisten in Erstaunen versetzten, waren sehr bewegliche Vierfüßler, die zum Ziehen von kleinen Karren benutzt wurden: Sie hatten Leiber wie Fohlen, sehr hohe Beine mit Hufen wie Rinder, ein gelbes Fell mit großen braunen Flecken und vor allem einen überaus langen Hals, auf dem sich ein Kamelkopf mit zwei kleinen senkrechten Hörnern erhob. Gavagai sagte, es seien Kameloparden, sie seien schwer zu fangen, weil sie sehr schnell rennen könnten, so dass nur die Skiapoden imstande seien, sie einzuholen und ihnen eine Schlinge über den Kopf zu werfen.
Tatsächlich war die Stadt, obwohl sie keine Gassen und Plätze hatte, ein einziger großer Markt, und an jeder freien Stelle war ein Zelt oder ein Verkaufsstand errichtet, ein Teppich ausgebreitet oder ein Brett horizontal über zwei Steine gelegt. Angeboten wurden Obst und Früchte, Fleischstücke (bevorzugt offenbar vom Kameloparden), Teppiche mit Mustern in allen Farben des Regenbogens, Kleider, Messer aus schwarzem Obsidian, Steinäxte, Tonschalen, Halsketten aus Knöchelchen oder aus roten und gelben Steinchen, Hüte in den seltsamsten Formen, Umhängetücher, Decken, zierlich geschnitzte Holzkästchen, Geräte zur Feldbestellung, Stoffbälle und -puppen für die Kinder, daneben Amphoren mit blauen, grünen, ambra-, rosa- und zitronenfarbenen Flüssigkeiten sowie Schalen voll Pfeffer.
Das einzige, was man auf diesem Jahrmarkt nirgendwo sah, waren Metallgegenstände, und tatsächlich verstand Gavagai, als er nach dem Grund dafür gefragt wurde, auch überhaupt nicht, was Wörter wie Eisen, Metall, Bronze oder Kupfer bedeuteten, gleich in welcher Sprache Baudolino
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